Interviews

Auf ein Wort mit Justus Barleben

Justus Barleben ist seit dieser Saison Assistent des Chefdirigenten Gijs Leenaars beim Rundfunkchor Berlin. Neben seiner Tätigkeit als künstlerischer Leiter eines Vokalensembles und internationalen Konzertreisen machte er unter anderem Station an der Kammeroper Rheinsberg und am Schauspielhaus Hannover. Seit 2019 ist er außerdem als Lehrbeauftragter für Chorleitung beim Landesmusikrat Niedersachsen und an der Hochschule für Musik Detmold tätig.

Zur Saison 2020/21 hast du als Assistent des Chefdirigenten des Rundfunkchor Berlin begonnen. Wie war dein Start?

Wie man sich vorstellen kann, war der Start recht ungewöhnlich, wir leben ja in schwierigen Zeiten. Der Chor war in Kurzarbeit und regelmäßige Proben waren dadurch nicht möglich. Ende August habe ich bei der Lounge des Rundfunkchores Weingläser gestimmt, auf denen der Chor gespielt hat. Direkt im Anschluss kam das transdisziplinäre Projekt THE WORLD TO COME, was extrem aufwändig und auch für mich mit viel Arbeit verbunden war. Das war herausfordernd, aber ich bin nun sehr gut eingearbeitet. Trotz der schwierigen Situation war mein Start sehr herzlich, alle Menschen sind mir offen begegnet, das weiß ich sehr zu schätzen.

Wenn alle 64 aus tiefstem Herzen singen, eröffnen sich unglaubliche Klangwelten.

Justus Barleben

Welchen Eindruck vom Chor hattest du vor deinem Einstieg und hat sich das Bild in der Zusammenarbeit gewandelt oder bestätigt?

Auch wenn ich den Rundfunkchor Berlin vor meinem Einstieg noch nie live gehört habe, hatte der Chor für mich schon immer einen sehr hohen Stellenwert. Über Streamingdienste, wie z.B. die Digital Concert Hall, habe ich viele Konzerte gesehen. Ich habe den Chor als einen ganz exzellenten und international renommierten Klangkörper wahrgenommen. Vor allem haben mich die chorsinfonischen Interpretationen der großen Werke des 19. und 20. Jahrhundert beeindruckt und auch die Innovationskraft der neuartigen Projekte, wie zum Beispiel das »human requiem« oder die szenisch aufgeführten Passionen von Johann Sebastian Bach. Diese Projekte finde ich großartig und in diesem Spannungsfeld sollten sich meiner Meinung nach alle professionellen Chöre bewegen – als Vorreiter für innovative Konzepte mit hohen künstlerischen Ansprüchen. Der Rundfunkchor Berlin macht das wirklich fantastisch und meine Hochachtung im Vorhinein hat sich mehr als bestätigt.
Ich bin immer wieder überwältigt, wenn ich den Chor live in den Proben hören darf. Das ist im Vergleich zu den digitalen Möglichkeiten noch einmal etwas ganz anderes. Der Rundfunkchor hat durch sein Profil wunderbare klangliche Nuancen. Durch die große Besetzung kann das Ensemble mit einem zarten Pianissimo oder einem kraftvollen Forte eine unglaubliche, für mich unvergleichliche musikalische Wirkung entfalten. Wenn alle 64 mit ihren individuellen stimmlichen und auch musikalischen Qualitäten aus tiefstem Herzen singen, eröffnen sich unglaubliche Klangwelten.

Was sind die Hauptaufgaben eines Assistenten des Chefdirigenten?

Das kann wirklich sehr unterschiedlich sein und hängt von der Institution und vom Chefdirigenten ab. Bei mir ist die Assistenztätigkeit zum Glück mit viel Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten verbunden, die ich beim Rundfunkchor wahrnehmen darf. Ich übernehme Registerproben und Nachstudierungsproben, bin aber auch für eigenständige Choreinstudierungen verantwortlich. Regelmäßig mit dem Chor zu arbeiten ist eine tolle Sache, ich kann täglich viel dazulernen! Etwas Besonderes ist auch der Campus des Rundfunkchores mit dem nachhaltigen Schola- und Akademieprogramm. Hierfür trage ich die künstlerische Verantwortung: Ich organisiere und nehme die Vorsingen ab, gestalte ein A-cappella-Programm mit der Schola und ermögliche den Akademisten ein vielfältiges und Rundfunkchor-orientiertes Fortbildungsprogramm.
Für Gijs Leenaars bin ich insbesondere bei Aufnahmesituationen ein zweites Paar Ohren. Wir sind im ständigen künstlerischen Austausch, was ich überaus schätze. Außerdem versuche ich ihm bei organisatorischen Fragen so gut es geht den Rücken freizuhalten. Die Aufgaben eines Dirigenten sind sehr vielfältig und zeitaufwändig, da kann man schnell in organisatorischer Arbeit versinken und findet nicht mehr genügend Zeit für die wichtige musikalische Vor- und Nachbereitung. Daher versuche ich ihm beispielsweise mit der Sichtung des Notenmaterials oder dem Erstellen von Sitzplänen und Einteilungen so viel wie möglich abzunehmen. Ich kümmere mich im organisatorischen Bereich vor allem um Angelegenheiten, die einer künstlerischen Einschätzung bedürfen – beispielsweise bei den akustischen Gegebenheiten von Konzertsälen und musikalischen Wünschen, die bei der Anordnung des Chores für Proben und Konzerte bedacht werden müssen.

Wie ist es mit dem Chor zu arbeiten und was schätzt du am meisten?

Die Arbeit mit dem Chor ist sehr angenehm – die Sängerinnen und Sänger sind sehr aufmerksam, zugewandt und konzentriert bei der Probe. Das ist für mich bei so vielen Menschen auf engem Raum gar nicht selbstverständlich. Auch wenn professionell auf sehr hohem Level gearbeitet wird, sind die Sängerinnen und Sänger nicht kühl oder verkrampft, sondern fokussiert. Ich finde diese Balance aus Menschlichkeit und künstlerisch-professionellem Anspruch ein hohes Gut, um musikalisch intensiv arbeiten zu können, dass sich der Chorklang entfalten und ich als Dirigent auch loslassen kann. Ich habe höchsten Respekt vor der Aufgabe, den Chor musikalisch anzuleiten. Bei jedem Sänger und jeder Sängerin spürt man das große Bedürfnis, musikalische Kräfte zu bündeln. Der Chor hat einen sehr starken künstlerischen Willen. Das ist eine besondere Herausforderung, die ich immer wieder gerne annehme.

Es gibt für mich nichts Schöneres, als mit menschlichen Stimmen zu arbeiten.

Justus Barleben

Du singst selbst innerhalb eines Vokalensembles. Hast du dadurch ein besonderes Verhältnis zur Arbeit der Sänger*innen?

Über das Singen habe ich vokale Klangformen lieben gelernt und das erfüllt mich sehr. Es gibt für mich nichts Schöneres, als mit menschlichen Stimmen zu arbeiten. Ich bin der Meinung, dass hier die Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten noch größer ist als bei Instrumenten. Jede Stimme und jeder Chor ist individuell und man kann hier unendlich viele Feinheiten herausarbeiten. Das finde ich einfach großartig, für mich gibt es nichts Spannenderes und Erfüllenderes als das Chordirigieren.
Durch die eigene Praxis habe ich gelernt, sensibel mit technischen Aspekten des Singens umzugehen. Ich versuche, den Sängerinnen und Sängern stets eine gute dirigentische Grundlage anzubieten, auf der es sich gut singen lässt, was sich beispielsweise sofort über die Atmung bemerkbar macht. Musikalische Zielführungen müssen meiner Meinung nach immer vereinbar sein mit einer stimmlichen Umsetzbarkeit. Dieser Aspekt spielt eine wichtige Rolle für meine Probenmethodik und auch für meine musikalischen Interpretationen.

In der transdisziplinären Konzertinstallation »THE WORLD TO COME« kamen zeitgenössische Musikströmungen mit Beethovens Meisterwerk »Missa Solemnis« zusammen. Wie waren dieses Erlebnis und das Dirigieren für dich?

Für mich war es super, bereits in meinem ersten richtigen Projekt eine künstlerische Verantwortung übernehmen zu dürfen. Mit einer kleinen Besetzung von 16 Männern aus dem Rundfunkchor habe ich für THE WORLD TO COME eigenständig Renaissance-Literatur erarbeitet und im Foyer des Vollgutlagers aufgeführt. Diese erste, gelungene Zusammenarbeit habe ich sehr genossen. Eine echte Herausforderung waren die gemeinsamen Passagen mit Chor und Orchester aus dem großen Raum. Ich beobachtete Chefdirigent Gijs Leenars über einen Monitor und synchronisierte sein Dirigat, um den Herren im Foyer, die als Fernchor fungierten, die richtigen Einsätze geben zu können. Diese wiederum konnten die Klänge aus dem großem Raum nahezu gar nicht hören. Das war abenteuerlich, da ich an meiner Position zum Teil auch drei bis vier unterschiedliche Klangkörper parallel wahrgenommen habe, aber es hat zum Glück alles sehr gut funktioniert. Insgesamt hat mich vor allem die Pluralität und Kernbotschaft des gelungenen Projektes überzeugt.

Hast Du ein Ritual vor dem Auftritt und wie bereitest du dich darauf vor?

Ein Ritual habe ich eigentlich weniger. Für mich ist das Umziehen in das Konzertoutfit vielleicht solch ein Prozess, bei dem ich mich auf das Konzert einstimme und mich fokussiere. Das Binden der Krawatte, das Verkleiden sozusagen, und auch das Sortieren und noch einmal Durchblättern der Noten. Beim Dirigieren fühle ich mich absolut in meinem Element. Mit den Händen Klang zu gestalten ist ein Mittel, das für mich sehr gut funktioniert, um mich musikalisch ausdrücken zu können. Daher empfinde ich in den Momenten vor einem Konzert vor allem Vorfreude und seltener Nervosität.

Ist das Dirigieren des Rundfunkchores Berlin ein Traumberuf für Dich?

Absolut! Jeden Morgen bin ich glücklich und dankbar über dieses Privileg, ich weiß es sehr zu schätzen.

Welche Musik hörst Du privat am liebsten?

Privat höre ich tatsächlich eher selten Musik. Wenn ich mich den ganzen Tag intensiv und fokussiert mit Musik beschäftige, sie durchlebe und da auch emotional eingespannt bin, dann brauche ich in den Ruhezeiten Erholung für meine Ohren und auch für die Seele. Lieber lese ich dann ein Buch oder schaue einen Film, um in andere Welten versinken zu können. Nebenbei Musik dudeln zu hören, beispielsweise im Einkaufszentrum, geht mir ehrlich gesagt ziemlich auf die Nerven.

Wir wagen einen Blick ins nächste Jahr: Gibt es ein Projekt, auf das du dich besonders freust?

Ich freue mich besonders auf Projekte in Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern wie beispielsweise Strawinskys »Oedipus Rex« mit Kirill Petrenko. Ich bin sehr neugierig, wie der Chor in dieser Zusammenarbeit aufblühen wird. Petrenko ist ein fantastischer Musiker und ein wirklich großes Vorbild für mich, so wie viele andere Dirigenten auch, denen ich im nächsten Jahr begegnen darf.
Die größte Freude für mich ist die Vielfalt der Projekte, die der Rundfunkchor Berlin umsetzt. So werden auch die multimediale Performance »Time Travellers« und das transdisziplinäre »human reqiuem« aufgeführt, bei welchen ich Co-Dirigieren darf.

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