In Berlin beginnt die Zeit des Radios 1923. Hat der Rundfunk anfangs bloß 1.000 »Abonnenten«, sind es ein Jahr später schon hundertmal so viele Hörer. Als 1925 der »Funk-Chor« ins Leben gerufen wird, sind es 200.000. Große Werke führt dieser Chor in Konzertsälen oder Opernhäusern auf, von wo sie übertragen werden; auf dem Programm stehen Opern und Operetten. Zudem singt er im Berliner Vox-Haus, anfangs noch in einem zehn Quadratmeter großen Raum. Für diese Sendungen wird unter der Leitung von Cornelis Bronsgeest ein neues Format eingeführt, das »Sendespiel«. Nachdem man zunächst stundenweise Musiker in wechselnden Besetzungen verpflichtete, entscheidet man sich im Frühjahr 1925, ein hauseigenes Ensemble zu gründen. 20 feste Sängerinnen und Sänger bilden fortan den »Chor der Berliner Funk-Stunde«. Viele von ihnen kommen von der Großen Volksoper, die zu Beginn des Jahres als Folge der Wirtschaftskrise geschlossen worden ist. Auch der erste Chordirektor, Ludwig Preiß, hat zuvor den Chor der Volksoper geleitet.
Um das neue Medium Radio durch den Chor besser zu nutzen, sind eigene Akzente für das Programm der Funk-Stunde gefragt. Dabei konzentrierte man sich überwiegend auf die geistliche Form des Oratoriums. Der bis dahin genutzte Raum im Vox-Haus stellt sich für diese Zwecke jedoch als zu klein heraus. 1926 wechselt der Chor innerhalb des Gebäudes daher in den 150 Personen fassenden »Großen Sendesaal«. Da das Repertoire von Ludwig Preiß vor allem weltliche Bühnenwerke umfasst, macht man sich auf die Suche nach einer neuen Leitung »von Rang und Namen«. Diese findet man im hochdekorierten Dirigenten Hugo Rüdel. Unter seiner Leitung singt der Chor bald Werke von Palestrina, Bach und Orlando di Lasso.
Wenige Jahre nach seiner Gründung ist der Chor der Berliner Funk-Stunde unter den Akteuren, als im jungen Medium Radio ein neues dramatisches Genre entsteht: die Funkoper. Bertolt Brecht und Kurt Weill, musikdramaturgisches Dreamteam seit dem überwältigenden Erfolg ihrer »Dreigroschenoper« im Jahr zuvor, machen unter Mithilfe von Paul Hindemith den Atlantikflug des US-Amerikaners Charles Lindbergh zum Thema einer speziell für den Rundfunk entwickelten Oper. Dem Chor kommen in dem Werk viele verschiedene Rollen zu, darunter auch die musikalische Personifizierung des Seenebels. Den Helden seiner Oper will Brecht später nicht mehr im Titel haben: Wegen Lindberghs ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus benennt er das Stück in »Der Ozeanflug« um.
Da der Platz im Vox-Haus für das steigende Interesse am Rundfunk nicht mehr ausreicht, muss ein neuer Bau her. Zu diesem Zweck erhält der Architekt Hans Poelzig 1927 von der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft den Auftrag, ein Rundfunkgebäude zu entwerfen. Vorgabe sind unter anderem zwei große Sendesäle. Für den Chor der Berliner Funk-Stunde eröffnet das eine zusätzliche Perspektive, ist die Akustik des Aufnahmestudios im Vox-Haus doch oft als unzureichend kritisiert worden.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ändert sich alles für das Ensemble: Das Radio wird im April 1933 dem Goebbels’schen Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellt, der Chor wird zum »Chor des Reichssenders Berlin«. Dirigent wird Heinzkarl Weigl. Der ist NSDAP-Mitglied und ab 1939 auch SS-Mitglied. Er bleibt bis 1940 in dieser Funktion, ehe er zum Großen Orchester des Reichssenders wechselt.
Scheinbar harmlose Unterhaltungsformate wie das »Deutsche Funk-Potpourri«, »Wir laden zum Tanz« oder »Großer Tanzabend« werden nun gesendet. »Organisation des Optimismus« heißt das in der Propagandasprache von Joseph Goebbels. Doch der Reichssender soll auch völkische Erziehung vermitteln: Sendungen mit Titeln wie »Deutsche Erde – Deutsches Lied« und »Zum Tag des Deutschen Volkstums« stehen auf dem Programm.
Eine Liste jüdischer Künstler, die im Rundfunk nicht mehr erwünscht sind, wird erstellt, darunter Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Jacques Offenbach oder Dirigenten wie Selmar Meyrowitz und George Szell. Auch auf der Liste: der jüdische Sänger Joseph Schmidt, ein wichtiger und schillernder Künstler der späten Weimarer Republik; zwischen 1929 und 1933 singt er in 38 Rundfunkopern am Berliner Rundfunk. Im Frühjahr 1933 wird ihm der Zugang zum Haus des Rundfunks verwehrt.
Zwischen 1940 und 1942 ist Hans-Georg Görner Chordirektor des Reichssenders Berlin, zuvor hat er den Kammerchor des Deutschlandsenders geleitet. Görner darf man wohl als hundertprozentigen Nationalsozialisten bezeichnen. Im Archiv des Rundfunkchores Berlin findet sich ein Schreiben von ihm mit dem Titel »Die Aufgaben des musikalischen Sendedienstes in den großen Tagen der Gegenwart«, das wahrscheinlich aus den Jahren 1940 / 1941 stammt. Darin schreibt Görner: »Die Kunstpflege ist nun nicht mehr Selbstzweck; sie steht im Dienste der Nation. (…) noch nie in der Geschichte hat ein ganzes Volk mitsingen dürfen, wenn seine Söhne auf den Schlachtfeldern den Sieg erfochten haben. Erst unserer Generation blieb es vergönnt, an diesem gewaltigen Geschehen unmittelbar teilzunehmen. (…) So wurde der Rundfunk durch die Macht der Musik zum Gestalter eines im Herzen entflammten glücklichen siegreichen Volkes.«
Am 15. September 1942 werden die Rundfunkchöre an den deutschen Reichssendern aufgelöst. Veranlasst wird die Maßnahme vom Intendanten des NS-Rundfunkwesens, Heinrich Glasmeier. Er will in Linz, der Lieblingsstadt Adolf Hitlers, einen »großdeutschen und europäischen Rundfunk« aufbauen. Dort gründet Glasmeier ein Brucknerorchester mit Chor – ebenfalls ganz nach dem Geschmack des Führers. Der »Reichs-Bruckner-Chor« wird zum gemeinsamen Nachfolger aller Rundfunkchöre, in dem sich auch zahlreiche einstige Sänger:innen der jeweiligen Ensembles versammeln.
Helmut Koch ist eine zentrale Figur für die Berliner Rundfunkchöre in den Nachkriegsjahrzehnten. Schon von den frühen 1930er-Jahren an ist der Dirigent und Chorleiter ein Faktotum des Berliner Musiklebens. Ab 1931 leitet er mehrere Arbeiterchöre, die er drei Jahre später unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft Berliner Chöre (»ABC- Chöre«) vereinigt. Das Repertoire dieser Chöre hat sich ab 1933 den Nazis anzupassen. Ende der Dreißiger, so sagt es Koch zumindest selbst später, sei diese Situation für ihn unerträglich geworden. Er gibt die Leitung der Chöre ab, arbeitet fortan für Schallplattenfirmen.
Noch 1945 beginnt er, die Solistenvereinigung des Berliner Rundfunks aufzubauen, ein Vokalensemble, mit dem er A-cappella-Literatur von der Renaissance bis zur Moderne einstudiert. Drei Jahre später gründet er zudem den Großen Chor des Berliner Rundfunks. In der DDR wird Koch vielfach geehrt, insbesondere seine Oratorienaufführungen bei den Händel-Festspielen in Halle werden gefeiert. Mit ihm als Dirigenten bestreiten die Chöre des Rundfunks Auftritte in Italien, Frankreich, England und vielen weiteren Ländern. Koch bleibt bis kurz vor seinem Tod 1975 Chefdirigent der Solistenvereinigung und des Großen Chors des Berliner Rundfunks.
Unmittelbar nach Kriegsende will der Berliner Rundfunk die Chorarbeit fortsetzen. Helmut Koch soll ihn aufbauen. Er fährt mit dem Fahrrad kreuz und quer durch Berlin, um Mitglieder des 1942 aufgelösten Chores wiederzufinden und neue Sänger:innen zu rekrutieren. Dazu notiert er später: »Während ich tagsüber Programme für Tanz- und Unterhaltungsmusik machte, kümmerte ich mich nach Feierabend um Ernste Musik. Inzwischen hatte ich schon per Fahrrad eine ganze Reihe von Künstlern aufgesucht, regelrecht zusammengetrommelt und den Berufschor ›Madrigal-Vereinigung Wilmersdorf‹ gegründet. Ich habe dann auch noch die Berliner Solistenvereinigung übernommen und etwa ab Mai / Juni 1945 Aufnahmen im Rundfunk gemacht. (…) Es kam schließlich dazu, dass die Berliner Solistenvereinigung mit dem Madrigalchor verschmolz. Daraus bildete sich ein neuer Klangkörper von 24 Sängern und Sängerinnen. Diese Gruppe erhielt dann im Dezember 1945 ihren Vertrag als ›Solistenvereinigung des Berliner Rundfunks‹«.
Der langjährige Rundfunkchorsänger Werner Eberhardt notiert in dem von ihm geführten Archiv dazu: »Am 10. Juli 1948 findet in der Leitung des Berliner Rundfunks eine Sitzung statt mit dem Tagesordnungspunkt: Gründung eines ›Großen Rundfunkchores‹. Auch die teilnehmende Vertreterin der SMAD, Frau Leutnant Trebljowa, stimmt dem zu, dass eine weitere Hintansetzung des Volksliedes, des Liedgutes der Arbeiterchöre sowie des revolutionären und politischen Kampfliedes geeignet sei, der Beliebtheit des Berliner Rundfunks in der breiten Masse Abbruch zu tun. Intendant Mahle: Eine Heranziehung der Solistenvereinigung hierfür sei nicht möglich, da die aus Gesangssolisten bestehende Vereinigung nur für die Wiedergabe von Kammermusik-Chorwerken geeignet sei. Geplant wurde ein Chor von 65 bis 80 Mitgliedern mit einem Gehalt von jeweils 400,– bis 500,– RM. Die Gelder sind aber bei der gespannten Finanzlage des Berliner Rundfunks nicht vorhanden. Mahle will sich für die zusätzlichen 80 Planstellen einsetzen, wie auch für die Sicherung der Bezahlung. Frau Trebljowa sagt Unterstützung zu.«
Neben klassischer Chorliteratur gehören ab den 1950er-Jahren regelmäßig »Parteigesänge« zum Repertoire des Chors. So stehen 1950 bei einer Festveranstaltung des Hauses der Kultur der Sowjetunion neben dem »Aufbaulied« auch das »Lenin-Lied« und »Ehre dem großen Stalin« auf dem Programm. Am zweiten »Genossenschaftstag des Konsum« im Jahr 1952 erklingen unter anderem das »Polnische Aktivistenlied« und »Wir bauen Berlin«. Zur musikalischen Begleitung des Tags des Lehrers 1955 wiederum singt man das »Lied der Gewerkschaften«, das »Eisenbahnerlied« und »Der berühmte Traktorist«.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bildet das Haus des Rundfunks in der Masurenallee eine sowjetische Enklave im britischen Sektor. Von dort sendet der Berliner Rundfunk, von der sowjetischen Besatzungsmacht kontrolliert. Der Journalist Hans Hielscher, der als Kind beim Berliner Rundfunk Gedichte aufsagte, schreibt später im Spiegel: »Der letzte Kampf ums Haus des Rundfunks folgte Anfang Juni 1952, als englische Truppen es mit Stacheldraht abriegelten. Niemand durfte mehr in das Gebäude; wer es verließ, kam nicht mehr hinein. Über 60 Angestellte blieben und arbeiteten noch wochenlang weiter. Die ›Belagerten‹ wurden in den Ostmedien als Helden gefeiert und von der sowjetischen Wachtruppe versorgt. In dieser Zeit ersetzten die DDR-Verantwortlichen die Sendungen von dort allmählich durch Beiträge aus den beiden Standorten in Grünau und der Nalepastraße, wo nun auch der ›Kinder- und Pionierfunk‹ aufnahm. Bis Ende August 1952 transportierten die Russen alles aus dem Funkhaus, was im Osten gebraucht wurde.«
Im Sommer 1951 beginnen auf dem Gelände einer ehemaligen Sperrholzfabrik an der Nalepastraße im sowjetischen Sektor Berlins die Arbeiten zum Ausbau der Anlage zu einem Funkhaus. Parallel dazu demontiert man die Einrichtungen in der Masurenallee. Mitte September 1952 nehmen die ersten Studios im neuen Funkhaus ihren Sendebetrieb auf. Doch sind längst nicht alle Räume fertiggestellt. Nachdem der Chor das Haus des Rundfunks verlassen hat, muss er daher notgedrungen von einem Probenlokal zum anderen ziehen. Man nutzt Kultursäle in Betrieben, die Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz oder die Post in der Oberwallstraße.
Während des Zweiten Weltkriegs wird die Berliner Staatsoper gleich zweimal durch Bomben zerstört: 1942 erfolgt nach kurzer Zeit die Wiedereröffnung, nach dem zweiten Luftangriff im Februar 1945 zieht sich der Wiederaufbau jedoch hin. Der Ostberliner Magistrat überlegt zunächst, eine Musikschule dort einzurichten, erst 1951 fällt die Entscheidung zugunsten der Oper. Die »Deutsche Staatsoper Berlin« eröffnet am 4. September 1955. Während der anschließenden Festwochen bringen die Solistenvereinigung und das Sinfonieorchester des Berliner Rundfunks unter Helmut Koch den »Messias« von Händel zur Aufführung. Das Neue Deutschland berichtet von einer »glänzenden« Aufführung.
1957 sind der Große Chor des Berliner Rundfunks und die Solistenvereinigung beim Musikfest in Perugia zu Gast. Unter der Überschrift »Triumph der Künstler aus der DDR« feiert die SED-Parteizeitung Neues Deutschland am 29. September 1957 die Künstler:innen: »Bei dem in diesen Tagen in der italienischen Stadt Perugia veranstalteten internationalen Musikfest ›Sagra musicale umbra‹ ernteten unsere Künstler – wie wir bereits melden konnten – begeisterten Beifall. Bekanntlich war den Künstlern aus der DDR zunächst die Einreise auf Interventionen des Westberliner Senats über den Bonner Botschafter in Rom verweigert, später auf den Protest der italienischen Gastgeber und der Öffentlichkeit erteilt worden. Dadurch musste das Eröffnungskonzert, das dem Sinfonieorchester und dem Großen Chor des Berliner Rundfunks mit der Solistenvereinigung des Deutschlandsenders unter Leitung Franz Konwitschnys übertragen war, um 24 Stunden verschoben werden.«
Eines der erfolgreichsten Propagandawerke der DDR ist das »Mansfelder Oratorium« (1950): eine Lobeshymne auf die wackeren, tapferen Bergarbeiter von Mansfeld. Eine besonders gefeierte Aufführung des Großen Chores des Berliner Rundfunks und der Solistenvereinigung findet im Oktober 1965 im Metropol-Theater (heute Admiralspalast) statt. Die DDR-Zeitung Der Morgen bejubelt am 13. Oktober 1965 das »Heldenlied der Arbeit«, das der Chor auf die Bühne gebracht habe, attestiert dem Ensemble einen »guten Griff, als er dieses Werk kürzlich wieder einstudierte«. In den Himmel gehoben werden in der Kritik auch Komponist Ernst Hermann Meyer und Texter Stefan Hermelin, die mit ihrem Werk den sogenannten »Bitterfelder Weg« besonders gelungen in die Tat umsetzten. Der »Bitterfelder Weg« verfolgt in den späten 1950er-Jahren das Ziel, Arbeiter:innen näher an die Kultur heranzuführen und die Kunst des Sozialistischen Realismus zu etablieren.
Unter strengen Auflagen dürfen die Solistenvereingung und der Große Chor des Berliner Rundfunks 1967 eine Italientournee antreten. Die Reise führt nach Perugia, Città di Castello, Terni, Rom, Parma und Genua. Zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester unter Helmut Koch führt der Chor Händels Oratorien »Der Messias« und »Semele« auf, letzteres zum ersten Mal in Italien. Mit »Jephte« von Giacomo Carissimi steht auch ein Werk eines italienischen Komponisten des Frühbarock auf dem Programm.
Ingeborg Müller, damals Sängerin im Rundfunkchor Berlin, berichtet: »In der DDR haben wir sehr oft Jugendweihen gestaltet, auch in kleinen Gruppen. Da haben wir vor Familien gesungen. Wir haben vor allem Aufbaulieder der Arbeit gesungen, von damaligen Komponisten, die auch für unseren Chor komponiert haben: Andre Asriel, Siegfried Matthus und Dietrich Erdmann.«
»In der Synagoge in der Rykestraße beim Kantor Estrongo Nachama haben wir alternierend mit dem RIAS Kammerchor in einer kleinen, sogenannten ›Muggebesetzung‹ die Sabbatfeier gestaltet, einfach so vom Blatt. Das betraf immer nur eine Handvoll aus jeder Stimmgruppe zu den jeweiligen Sabbatfeiern. Es wurde dann live gesendet und ging immer freitags über den Rundfunk. Es war ein Genuss, Herrn Estrongo Nachama singen zu hören. Er war ein begabter Sänger, so etwas habe ich seitdem nicht wieder gehört von Kantoren. Er hatte ein wunderschönes Volumen.« Diese Erinnerung stammt ebenfalls von Ingeborg Müller, seinerzeit Sängerin im Rundfunkchor Berlin.
Im September 1973 reisen der Große Chor des Berliner Rundfunks und die Solistenvereinigung nach Finnland. Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst meldet zum Abschluss: »Das musikalische Ereignis des Helsinki-Festivals war die ›Messias‹-Aufführung durch das Rundfunk-Sinfonieorchester, den Rundfunkchor und die Solistenvereinigung unter der Leitung von Prof. Helmut Koch. Für die Berliner Rundfunkensembles, die sich seit Jahren Verdienste durch eine kontinuierliche Händel-Pflege erworben haben, war das zugleich die 30. ›Messias‹-Aufführung. Prof. Helmut Koch erklärte, dass nicht nur Fachleute und Veranstalter des Festivals, sondern auch das musikalisch anspruchsvolle Publikum Helsinkis der Aufführung der Künstler aus der DDR höchstes Lob spendeten.« Auch die finnische Presse schließt sich dem Lob an.
Für die »DDR-Musiktage« in Japan reist der Rundfunkchor Berlin im Jahr 1974 nach Osaka, Kurashiki, Nagoya und Tokio. Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester unter Kurt Sanderling präsentiert er die 9. Sinfonie von Beethoven. Die Neue Zeit bilanziert den Erfolg der »Gastspieltätigkeit von Künstlern und Ensembles der DDR im kapitalistischen Ausland« mit diesen Zahlen: »Drei führende Ensembles und 16 namhafte Solisten traten bei insgesamt 87 Veranstaltungen vor rund 170.000 Besuchern auf.« Nicht genannt ist in dieser Auflistung die Anzahl von Chormitgliedern, die die Reise nutzen, um die DDR zu verlassen: zwei – ein Ehepaar bleibt in Japan.
Eine bedeutende Vereinigung zweier Rundfunkensembles findet 1974 statt: Aus der »Solistenvereingung« und dem »Großen Chor des Berliner Rundfunks« wird der »Rundfunkchor Berlin« – so heißt er noch heute. Zugleich endet die Ära Helmut Koch: Zum Ende der Spielzeit 1973 / 74 hört er als Chefdirigent auf. Sein Nachfolger wird nun Heinz Rögner, der zu dieser Zeit bereits das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) leitet.
Für den 60. Jahrestag der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« erklingt im Juni 1977 im Palast der Republik die Oper »Fürst Igor« des russischen Komponisten Alexander Borodin in einer konzertanten Aufführung. Das Konzert ist eine deutsch-sowjetische Zusammenarbeit. Vom Leningrader Kirow-Theater kommen die Solisten, der Rundfunkchor Berlin wird vom Leningrader Dirigenten Robert Lutter einstudiert, dazu spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Wolf-Dieter Hauschild. Die Neue Zeit hört viel »russisches Kolorit«, dank der »blutvollen Musikalität und Stimmgewalt der sowjetischen Sänger«.
Beim 10. Festival des politischen Liedes stehen Mikis Theodorakis und Pablo Neruda gemeinsam mit dem Rundfunkchor Berlin auf der Bühne. Theodorakis notiert am 14. Februar 1980 im Gästebuch des Rundfunkchores Berlin: »Mit Begeisterung und Dankbarkeit für die wundervolle Zusammenarbeit beim ›Canto general‹«.
Für Klaus Silber ist die Zeit als Chormitglied im Rundfunkchor Berlin auch mit Schmerz verbunden. Er und seine Frau sind in der DDR als gläubige Christen nicht wohlgelitten. »Im Chor war es eigentlich wunderschön für uns, wir sangen jede Menge geistliche Musik«, sagt Silber. »Aber wir waren Verfolgte des Regimes, und auch im Rundfunkchor hat es eine starke SED-Parteigruppe gegeben.« Seiner Frau, die an einer Krankheit leidet, werden 1986 importierte West-Medikamente, die sie dringend benötigt, versagt. Das Paar stellt daraufhin einen Ausreiseantrag. Wenig später werden beide auch aus dem Rundfunkchor Berlin entlassen. »Der DDR-Rundfunk war das Propagandainstrument der Partei, da passten wir nicht hin. Wir hatten dann Berufs- und Arbeitsverbot. Um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, mussten wir unser Eigentum verkaufen.« Erst 1988 wird ihre Ausreise genehmigt. Nach der Wende werden beide rehabilitiert, treten erneut in den Rundfunkchor Berlin ein. »An die wunderbaren Auslandsreisen mit dem Chor und die Auftritte mit den Berliner Philharmonikern habe ich die schönsten Erinnerungen«, sagt Silber.
Von Dietrich Knothe sind die Worte bekannt, er zerreiße sich bei »qualitätsvollen Werken gern mal die Ohren – und den Sängern möglicherweise die Nerven«. In der Tat: Knothe, von 1982 bis 1993 Chefdirigent des Rundfunkchores Berlin, ist fordernd, ambitioniert und zielstrebig bei der Arbeit. Mit der DDR-Kulturpolitik gerät er gelegentlich in Konflikt: Während seiner Zeit beim Rundfunkchor Leipzig ist er im Oktober 1962 als Chorleiter entlassen worden, als sein Chor bei einer Feierstunde zum Republikgeburtstag vor dem Singen der Nationalhymne den Saal verließ. Der Grund: Wenige Tage später stand ein wichtiges Stück auf dem Programm – Knothe brauchte die Zeit zum Proben.
»Dietrich Knothe hat den Rundfunkchor Berlin in seiner Zeit zu einem wahren Präzisionsinstrument geformt«, so Hans-Hermann Rehberg, Chordirektor von 1990 bis 2022. »Für einen beseelten Klang stand der Rundfunkchor Berlin schon zuvor, mit ihm aber kamen Akkuratesse und Akribie dazu. Knothe hat dafür gesorgt, dass sich das Lerntempo mehr als verdoppelt hat im Vergleich zu seinen Vorgängern.«
Am 7. Oktober 1984 eröffnet das wiederaufgebaute Schauspielhaus. Der von Karl Friedrich Schinkel im 19. Jahrhundert im Stil des Klassizismus entworfene Bau war während des Zweiten Weltkriegs ausgebrannt und wurde ab Ende der 1970er-Jahre neu errichtet. Für den Rundfunkchor Berlin, der bis dahin wahlweise im Metropol-Theater, in der Volksbühne und im Palast der Republik auftrat, gibt es jetzt endlich einen Konzertsaal, dessen Akustik und Raum- klang auch für die Aufführungen von A-cappella-Chorwerken geeignet sind.
Nicht nur in der Popmusik – man denke an die Konzerte von Bruce Springsteen und Ton Steine Scherben in Ostberlin – weht schon 1988 ein »Wind of Change« durch Berlin. Umgekehrt reist von nun an auch der Rundfunkchor Berlin mehrmals in den Westen der Republik. Im November 1988 treten die Damen des Rundfunkchores Berlin gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern in der (West-)Berliner Philharmonie auf. Gustav Holsts »Die Planeten« steht auf dem Programm, unter der Leitung von Sir Colin Davis. Ein epochaler Abend und Auftaktakkord für eine Tournee nach Salzburg im Jahr 1989.
»Ich erinnere mich noch, wie ich in den Achtzigern den Gesangsunterricht in der Hochschule für Musik Hanns Eisler besuchte. Sie hatte damals ihren Sitz noch in der Wilhelmstraße. Wenn wir aus dem Fenster schauten, konnten wir die Philharmonie sehen. Dazwischen war die Mauer. Ich dachte immer: Eines Tages will ich in diesem Haus singen. Das wurde dann 1988 Wirklichkeit. Vom Trubel des Westens war ich ziemlich überfordert, aber in der Berliner Philharmonie aufzutreten war ein Traum.«
Werner Eberhardt, langjähriges Mitglied im Rundfunkchor Berlin und lange dessen Archivar, erinnert sich an den Tag des Mauerfalls: »Die Frauen hatten am 9. November 1989 frei, die Männer am Abend im Funkhaus Aufnahme für Richard Straussʼ ›Tageszeiten‹, geleitet von Alfred Walter. Im Fernsehen lief eine wichtige Pressekonferenz mit Schabowski, und während die Kollegen auf dem Weg ins Funkhaus waren, kam die Mitteilung, die Mauer sei geöffnet. Von Ungläubigkeit bis Freude und Zweifel, die Gefühlsskala schlug heftig aus. Am nächsten Morgen sahen alle sehr müde aus, denn fast alle waren über Nacht mit ihren Familien in Westberlin oder noch andernorts gewesen. Zumindest hat man vorm Fernseher gesessen, um die Entwicklung zu verfolgen.«
1989 kommt Leonard Bernstein in die wiedervereinigte Stadt, um mit dem Rundfunkchor Berlin, anderen Chören und einem international besetzten Orchester die »Ode an die Freude« zu dirigieren – einmal in Ost-, einmal in West-Berlin. Bernstein dichtet kurzerhand Schillers Titel um – in »Freiheit, schöner Götterfunken«. Margarete Bares hat damals mitgesungen. Sie erinnert sich: »Beethovens 9.Sinfonie hatte ohnehin einen besonderen Stellenwert in meinem Sängerinnenleben – ich habe nachgeschaut, ich habe sie rund 170 Mal gesungen! Ich fühlte mich geehrt, diese Neunte als eine von 25 Sänger:innen des Rundfunkchores Berlin in dieser besonderen Situation singen zu dürfen. Bernstein, ein Dirigent mit einer ungeheuren Suggestivkraft, war für diese Konzertabende eine Traumbesetzung. Die Schiller’schen Zeilen spiegelten die Stimmung nach dem Mauerfall wider: die Hoffnung, das Weltumspannende und den Toleranzgedanken. Es herrschte eine unglaubliche Spannung in dem Klangkörper, meine Kolleg:innen und ich waren hochmotiviert. Und dann griff Bernstein in den Text ein und ersetzte ›Freude‹ durch ›Freiheit‹. Das muss man einem Dirigenten in so einer Situation schon zugestehen. Das Konzertpublikum verstand seine Botschaft und dankte es ihm mit lang anhaltendem Applaus. Bernstein hat damit Geschichte geschrieben.«
Rita Süßmuth, die damalige Präsidentin des Deutschen Bundestags, besucht eines der beiden Festkonzerte mit Leonard Bernstein anlässlich des Mauerfalls und schreibt am 24.12.1989 ins Gästebuch des Rundfunkchores Berlin: »Alle Menschen werden Brüder … Freiheit schöner Götterfunken … Was uns verbindet, lässt sich nicht mehr trennen. Gemeinsam Musik hören und verstehen – geführt durch L. Bernstein mit dem Rundfunkchor Ost-Berlin und vielen Europäern – ein unvergesslicher Abend … Danke!«
Ein Feiertag für den Rundfunkchor Berlin in seiner frisch wiedervereinten Heimatstadt: Ende Oktober 1990 singt er ein Benefizkonzert des Bundespräsidenten gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern unter Daniel Barenboim. Einzig Beethovens »Missa solemnis« steht auf dem Programm. Kritiker Klaus Geitel schreibt in der Berliner Morgenpost vom 1. November 1990, »die unbestreitbar Besten der wiedervereinten Stadt« seien auf der Bühne zusammengekommen. Und weiter: »Die Unvergesslichkeiten stiftet an diesem Abend der Chor. Er singt mit äußerster Plastizität, einer nie abschlaffenden Energie. Die herausfordernden großen Chorblöcke in ihrer immer gleichbleibenden Beheimatung im Extremen klingen in Klarheit und mit der vorgeschriebenen Kraftentfaltung in Herrlichkeit auf.«
Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker schreibt nach den von ihm ausgerichteten Benefizkonzerten am 30. und 31. Oktober 1990 ins Gästebuch des Rundfunkchores Berlin: »Dankbar verbunden für zwei unvergessliche Abende der ›Missa solemnis‹. Einen besseren Chor kenne ich nicht«.
Werner Eberhardt, langjähriges Mitglied im Rundfunkchor Berlin und lange dessen Archivar, erinnert sich an den Tag des Mauerfalls: »Die Frauen hatten am 9. November 1989 frei, die Männer am Abend im Funkhaus Aufnahme für Richard Straussʼ ›Tageszeiten‹, geleitet von Alfred Walter. Im Fernsehen lief eine wichtige Pressekonferenz mit Schabowski, und während die Kollegen auf dem Weg ins Funkhaus waren, kam die Mitteilung, die Mauer sei geöffnet. Von Ungläubigkeit bis Freude und Zweifel, die Gefühlsskala schlug heftig aus. Am nächsten Morgen sahen alle sehr müde aus, denn fast alle waren über Nacht mit ihren Familien in Westberlin oder noch andernorts gewesen. Zumindest hat man vorm Fernseher gesessen, um die Entwicklung zu verfolgen.«
Der Rundfunkchor Berlin in zehn Schlagworten von Hans-Hermann Rehberg
… waren für mich die drei Grammys, die aus den Kooperationen mit den Berliner Philharmonikern und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin hervorgegangen sind. Aber auch die Aufführungen aller Wagneropern mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und unsere interdisziplinären Konzertformate sind unvergesslich.
Den haben wir kontinuierlich erweitert. In den gut 30 Jahren, in denen ich beim Rundfunkchor Berlin Direktor war, waren wir viel unterwegs und hatten einen großen Wirkungsradius. Vor allem haben wir Chormusik durch unsere interdisziplinäre Arbeit – unter Einbeziehung theatraler Elemente – neu und anders erlebbar gemacht. Mit unserer Initiative »Broadening the Scope of Choral Music« haben wir unseren Publikumskreis erweitert und weltweite Reputation erfahren.
… fand ich ziemlich ätzend.
… beglückend. Da wurde die Welt größer. Seit 1990 konnte ich für den Rundfunkchor Berlin in führender Rolle gestalten. Vorher hätte ich es wohl auch nicht gemacht, weil ich nicht fremdbestimmt gestalten wollte. Mit der größer gewordenen Welt wurde auch ein ganz anderer Repertoire-Horizont zugänglich.
Indem wir zum Beispiel in interkulturelle Communities gegangen sind und auch Musikvermittlungsarbeit in den Schulen geleistet haben, konnten wir dort Brücken zur sogenannten Hochkultur bauen. Darüber hinaus arbeitet der Rundfunkchor Berlin mit allen großen Orchestern Berlins zusammen. Er erreicht dadurch das Publikum aller Ensembles und baut somit immer wieder Brücken – auch zu den eigenen Projekten, etwa den A-cappella-Konzerten, unserer Königsdisziplin, und zu unseren transdisziplinären Projekten.
… haben wir immer gesucht. Manchmal kamen sie auch zu uns, ohne dass wir sie gesucht haben. Denn der Rundfunkchor Berlin hat allein schon aufgrund seiner 100-jährigen Geschichte einen unebenen Weg hinter sich, Brüche gehören zu seinem Alltag. Für mich waren Brüche immer wichtig, denn sie provozieren etwas, rufen eine Reaktion hervor. Das beste Beispiel dafür ist vielleicht, als wir Gustav Holsts »Sāvitri« 2010 im Berghain aufgeführt haben: Chor-Theater in der Techno-Kathedrale.
Wenn ich ein einziges Stück wählen müsste: Richard Straussʼ »Der Abend«. Das ist unglaublich komplex und farbenreich komponiert, einfach toll. Wenn man dieses Meisterwerk der A-cappella-Literatur hört, erlebt man ein Orchester menschlicher Stimmen.
Für die großen symphonischen Werke: die Berliner Philharmonie. Für A cappella müsste in Berlin meines Erachtens der ideale Saal erst noch gebaut werden. Bei den bestehenden Sälen ist es so: Entweder sind sie klein und klingen gut, oder sie haben eine gute Größe, aber es bleibt akustisch etwas auf der Strecke. Ich mag für A-cappella-Konzerte den Großen Saal des Konzerthauses Berlin.
Wenn die Proben vorbei sind, das Publikum da ist und man im Sound des Ensembles baden kann.
Mit Beethovens »Missa solemnis«, Henzes 9. Sinfonie und dem »Deutschen Requiem« von Brahms ist der Rundfunkchor Berlin konkurrenzlos großartig!
Die Öffnung der Mauer hat vor allem etwas Befreiendes: Der Rundfunkchor Berlin bekommt im Jahr 1990 etliche Engagements, arbeitet mit vielen verschiedenen Orchestern zusammen. Doch da ist auch Ungewissheit: Im Juni 1990 werden alle vier Berliner Rundfunk-Klangkörper der DDR aufgelöst. Ein Pokerspiel um die Frage der Trägerschaft beginnt. Und Einschnitte müssen in Kauf genommen werden: Sangen im Chor während der 1980er-Jahre noch 87 Sänger:innen, wird er nun auf 64 Sänger:innen zusammengestutzt.
Seit Jahrzehnten gehört Beethovens Sinfonie Nr. 9 zu den unverzichtbaren Traditionen des Rundfunkchores Berlin. Zur Feier des Jahreswechsels wird sie stets gemeinsam mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin aufgeführt. Doch das Werk erklingt während all der Jahre nicht nur zu Silvester. Der Rundfunkchor Berlin intoniert die Schiller’schen Verse auf Beethovens Musik zu zahlreichen Gelegenheiten von historischer Bedeutung, darunter auch beim offiziellen Konzert zum Vorabend der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.
Zu Beginn des Jahres 1991 kommt es zur ersten Zusammenarbeit mit Sir Simon Rattle. Am 5. Januar singt der Rundfunkchor Berlin unter ihm im Berliner Konzerthaus Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 2 mit den Berliner Philharmonikern. »With deepest thanks and great admiration«, schreibt Rattle in das Gästebuch des Chores: »Mit verbindlichstem Dank und großer Bewunderung«.
Jörg Schneider, seit 1989 Mitglied des Rundfunkchores Berlin, schwärmt: »Für mich war die Tour durch Japan eine ganz besondere Reise. Ich war nie zuvor auf einem anderen Kontinent und durfte jetzt die besondere japanische Kultur erleben. Zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sind wir vom Norden bis in den tiefsten Süden auf viele Inseln gereist. Wir haben im Wechsel Beethovens Neunte und Mozarts ›Requiem‹ sowie das ›Ave Verum‹ aufgeführt. In Hiroshima die ›Ode an die Freude‹ zu singen, nachdem wir am Vormittag am Friedensdenkmal gesungen hatten, war für mich sehr berührend und wird mir unvergesslich bleiben.«
Michael Timm erinnert sich: »Es war eine ungewöhnliche, euphorische Zeit, die geprägt war von den Möglichkeiten und den Freiheiten, die es jetzt gab. Die Kolleg:innen im Rundfunkchor Berlin haben mich sehr herzlich aufgenommen. Wir haben damals im Funkhaus Nalepastraße in Oberschöneweide geprobt – dort war es für mich schwierig, mich mit der grauen Umgebung des schon weitgehend verlassenen DDR-Rundfunkgeländes abzufinden, obwohl der große Sendesaal mit seinen Aufnahmemöglichkeiten fantastisch war.«
Durch den Fall der Mauer ändert sich auch die Lage der deutsch-deutschen Medien. Der Rundfunk der DDR wird mit dem Ende des Staats obsolet, und der Deutschlandfunk verliert seinen Auftrag, Informationen aus dem Westen in die DDR zu senden. Ähnliches gilt für den US-amerikanischen RIAS. Für die Berliner Rundfunkensembles stellt sich die Frage, von wem sie in Zukunft getragen werden. In dieser Übergangsphase kommen der Rundfunkchor Berlin und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin 1992 zum »Deutschlandsender Kultur«, unter der Obhut des ZDF, später beteiligt sich noch die ARD an den Ensembles. Der Deutschlandsender Kultur, nach der Wende aus dem Deutschlandsender und Radio DDR II hervorgegangen, sendet »im Auftrag von ARD und ZDF« bis auf Weiteres aus dem Funkhaus Nalepastraße. Zu welcher Rundfunkinstitution die Ensembles langfristig gehören sollen, bleibt in dieser Situation ungewiss. Dieses Intermezzo des Rundfunkchores Berlin beim Deutschlandsender Kultur währt bis zur Gründung der Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH 1994.
Als am 1. Januar 1994 die Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH gegründet wird, endet für die Berliner Rundfunkensembles eine Periode der Unsicherheit, die mit der deutschen Einheit begonnen hatte.
»Der Mauerfall, die deutsche Einheit und schließlich die Eingliederung in die ROC – das war ein dreifacher Befreiungsschlag für den Rundfunkchor Berlin und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB). Sie waren durch ihren besonderen Status der Abwicklung entgangen. Während zwischen dem RSB und dem ebenfalls in die ROC eingegliederten Westberliner Deutschen Symphonie-Orchester Berlin erst einmal Konkurrenzdenken herrschte, blieben die Chöre davor bewahrt. Der RIAS Kammerchor und der Rundfunkchor Berlin hatten zu unterschiedliche Programmangebote. Der Mauerfall und die organisatorischen Folgen hatten einen enormen psychologischen Effekt, der Ostberliner Chor konnte aufblühen: Seine Existenz war gesichert, ihm stand nicht nur das geeinte Berlin, der westliche Teil Deutschlands, sondern buchstäblich die ganze Welt offen. Diese Begeisterung spürte auch das Publikum. Mit ihrem Chordirektor Hans-Hermann Rehberg, der schon den Übergang in die ROC gemanagt hatte, entwickelten die Sänger:innen neue Programme, gingen auf Tourneen, feierten Erfolge, von denen sie früher nicht einmal zu träumen wagten. Noch heute spüre ich bei den Konzerten und in Gesprächen mit den Chormitgliedern den Esprit der Wendetage, die sie zu neuen Erfolgen führten. Sie konnten ihre Freiheit voll entfalten und genießen, als Bürger und als Künstler.«
Eine regelmäßige Zusammenarbeit findet auch mit dem Dirigenten Marek Janowski statt. Erstmals dirigiert Janowski den Rundfunkchor Berlin 1994, als der »Freischütz« von Weber mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin eingespielt wird. Später folgen zahlreiche Reisen ins Ausland mit ihm. Janowski gratuliert dem Rundfunkchor Berlin herzlich zum runden Geburtstag: »Es ist mir eine Freude und Ehre zugleich, dem Rundfunkchor Berlin zu seinem hundertjährigen Bestehen zu gratulieren. In vielen Konzerten mit mir in Berlin, Paris, Zürich, Genf, Monte Carlo, Rom hat er immer seine überragende Qualität bewiesen. Über die vielen Jahre hinweg hat sich (so denke ich) eine künstlerische und menschliche Sympathie entwickelt, auf die ich immer gerne zurückblicken werde. Alles erdenklich Gute für die nächsten hundert Jahre!«
Von 1994 bis 2001 leitet der Brite Robin Gritton den Rundfunkchor Berlin. Gritton erinnert sich an seine erste Begegnung mit dem Ensemble: »Mit dem Rundfunkchor Berlin bin ich erstmals in den frühen 1990er-Jahren in Berührung gekommen. Ich war in Berlin und wurde eingeladen, den Chor kennenzulernen. Ich war gespannt, als ich das Studio in der Nalepastraße betrat. Ich weiß nur noch, dass mir eine recht reizvolle, einfache dreistrophige Vertonung eines deutschen Volksliedes auf mein Pult gelegt wurde. Es war ein Stück, das ich noch nie zuvor gesehen hatte, und ich wurde gebeten, es sofort zu proben. Erst später habe ich erfahren, dass ich damit getestet werden sollte. Bis zum heutigen Tag hat mir niemand erklärt, warum mir diese Falle gestellt wurde, aber ich spürte schnell, dass ich mein Bestes geben musste, um zu einer Interpretation zu kommen, die den Chor zu schönem Gesang motivieren würde. Ich muss diese Prüfung bestanden haben, denn wenig später wurde ich gefragt, ob ich Chefdirigent des Chores werden wolle. Ich brauchte einige Zeit, um darüber nachzudenken, aber ein Jahr später trat ich die Stelle an. Lang lebe der Rundfunkchor Berlin!«
»Eine Apotheose des Schrecklichen und des Schmerzlichen« nannte Hans-Werner Henze seine 9. Sinfonie, die den Untertitel trägt: »Den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus gewidmet«. Anna Seghers’ Roman »Das siebte Kreuz« über die Flucht von sieben Personen aus einem Konzentrationslager liegt dem Text zugrunde, den der Autor Hans-Ulrich Treichel für den Vokalpart des Werkes schrieb – denn »Sinfonie Nr. 9« ist eine Chorsinfonie. Dem Chor kommt darin eine ausschlaggebende Rolle zu: Es sind gerade die menschlichen Stimmen, die den Inhalt und die Emotionalität der eng am Text komponierten Musik ganz explizit transportieren. Gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern bringt der Rundfunkchor Henzes Neunte am 11. September 1997 unter Leitung von Ingo Metzmacher zur Uraufführung. Eine zweite Einspielung wird im Jahr 2009 mit Marek Janowski und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin realisiert.
Jörg Schneider, Mitglied im Rundfunkchor Berlin seit 1989, erzählt: »Ich habe schon bei einem ersten Zwischenstopp in Singapur die verschiedenen asiatischen Kulturen neugierig aufgenommen. Danach, in Australien, waren wir zum Adelaide Festival eingeladen und haben dort Rachmaninows Vespermesse unter Robin Gritton aufgeführt – immer wieder ein sehr schönes Werk! Als wir nach Neuseeland kamen, wurden wir in Wellington mit einer Maori-Zeremonie empfangen. Auch der Empfang im Garten des historischen Government House war eindrücklich, eine Jazzband hat dort gespielt, der Gouverneur hat sich persönlich um unser Wohl gekümmert. Und es waren viele Maori anwesend. In Wellington haben wir insgesamt vier Konzerte gegeben, bei zweien haben wir gemeinsam mit einem neuseeländischen Chor die ›Gurre-Lieder‹ von Arnold Schönberg gesungen.«
»In 100 Jahren hat der Rundfunkchor Berlin unzählige Male sein Publikum begeistert, seit einem Vierteljahrhundert kann er auch auf die stetige Unterstützung eines Kreises von besonders engagierten Fans hochklassiger Chormusik zählen. Mit den gewonnenen Mitteln konnten die inzwischen 450 Freunde und Förderer zahlreiche der innovativen musikalischen Vorhaben des Rundfunkchores Berlin mitfinanzieren. Ein zentrales Anliegen des Förderprogramms ist außerdem seit jeher die Unterstützung des sängerischen Nachwuchses. In diesem Jahr haben wir zum 50. Mal Teilnehmende in der Akademie des Rundfunkchores begrüßt, aus deren Kreis inzwischen schon viele Sängerinnen und Sänger zum festen Bestandteil des Ensembles geworden sind. Ergänzt wird dies durch Zuwendungen für die regelmäßigen Schola-Workshops des Rundfunkchores Berlin, in denen Studierende verschiedener Hochschulen die Arbeit des Rundfunkchores aus der Nähe kennenlernen können.«
Zu diesem Ereignis schreibt Eleonore Büning in der FAZ vom 20. September 2001: »Die drei vierstimmigen Männerchöre und der achtstimmige gemischte Chor waren den Orchestermassen selbstredend ebenfalls gewachsen: Ihre finale Sonnenhymne hub schier das Dach von der Philharmonie.«
Katrin Fischer, seit 1989 Sängerin im Rundfunkchor Berlin, erzählt: »Die USA-Reise war ein großes Abenteuer. 16 Tage reisten wir kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten, jeden zweiten Tag flogen wir in eine andere Stadt, hatten dort eine ›Ansingeprobe‹ und anschließend ein Konzert. Meistens traten wir auf dem Hochschulcampus der jeweiligen Stadt in den dortigen Konzertsälen auf. Die Konzertbesucher waren zum Teil ehemalige Auswanderer, vorrangig aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Ich glaube, wir konnten ihnen mit den Werken von Mendelssohn, Brahms und Richard Strauss ein wenig ›alte Heimatklänge‹ überbringen. Besonders hat es mich berührt, dass es Konzertbesucher gab, die eine vierstündige Anfahrt in Kauf nahmen, um uns zu hören. Wir wurden überall herzlich empfangen und spürten eine große Dankbarkeit. Den Abschluss der Tournee bildeten Henzes 9. Sinfonie und Beethovens ›Chorfantasie‹, unser Dirigent war Kurt Masur im Lincoln Center in New York.«
»Meine Zeit als Chefdirigent des Rundfunkchores Berlin war der Höhepunkt meines bisherigen Arbeitslebens. Die große Gemeinsamkeit im Streben nach musikalischer Exzellenz, die kollektive Leidenschaft, Inspiration und Energie bei allen Chormitgliedern und allen Kolleg:innen, die uns im Hintergrund unterstützten – das alles ist ein Geschenk, das man nie vergisst.
Ich hatte das Glück, Nachfolger von Robin Gritton zu sein, der den Ensembleklang mit großer Sorgfalt gepflegt hatte, und mit Hans-Hermann Rehberg einen Chordirektor an meiner Seite zu haben, dessen Engagement für den Chor legendär ist und mit dem wir auch zahlreiche Education-Initiativen auf den Weg gebracht haben. Und nun sehe ich, wie der Chor mit meinen Freunden und Nachfolgern auf Höhenflüge geht …
Es gab so viele musikalische Highlights, dass es schwer ist, nur ein paar herauszugreifen: Die wichtigste musikalische Beziehung als Dirigent verbindet mich mit Sir Simon Rattle – seit inzwischen 40 Jahren. Und bei meinen ersten Projekten mit den Berliner Philharmonikern konnte ich auch noch mit Claudio Abbado zusammenarbeiten. Mit ihm gemeinsam Partituren vorzubereiten, war eine unvergessliche Erfahrung; und bei seiner Aufführung von Berlioz’ ›Te Deum‹ in der Waldbühne mitzuwirken, war ein großes Privileg. Mit Kent Nagano und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin haben wir unseren härtesten, aber auch beglückendsten Lernprozess durchlebt: mit Schönbergs ›Moses und Aron‹ in Berlin und Los Angeles – einem regelrecht unsingbaren Stück. Marek Janowski und dem RSB haben wir unendlich viele wertvolle musikalische Erfahrungen zu verdanken, darunter vielleicht am wichtigsten die Komplettaufführung und -einspielung aller Wagner-Opern. Und die tollste Erfahrung überhaupt? Das waren all diese großartigen Projekte, die uns in eine internationale Umlaufbahn gebracht haben; vor allem Jochen Sandigs Inszenierung des Brahms-Requiems als human requiem, mit dem wir bis nach Australien gekommen sind!
Der Rundfunkchor Berlin ist in seiner ganzen Geschichte ein herausragendes und innovativ agierendes Ensemble gewesen. Und heutzutage gilt das erst recht. Ein kleiner Teil davon gewesen zu sein, wird mir immer unvergesslich bleiben. Danke an euch alle!«
Sir Simon Rattle und Simon Halsey bilden zwischen 2002 und 2015 das Dreamteam des Berliner Klassikbetriebs. Rattle ist von 2002 bis 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Halsey leitet den Rundfunkchor Berlin von 2001 bis 2015. Die Kooperationen beider Ensembles in dieser Ära sind legendär.
»Der Rundfunkchor Berlin und Simon Halsey: Schon diese Worte klingen für mich nach Abenteuer. Der Chor hat sich in unseren gemeinsamen Jahren von einer exzellenten Gruppe in ein Kollektiv verwandelt, das keine Grenzen mehr kennt. Selbst wenn die beiden britischen Simons seltsame und ungewöhnliche Dinge zu verlangen schienen, blieb zwischen den Ensembles und den Dirigenten eine starke emotionale Verbindung bestehen. Die intensive Arbeit mit Peter Sellars, insbesondere an den Werken von Bach, brachte uns alle dazu, weiter zu gehen, als wir es für möglich hielten. Simon Halsey war währenddessen immer praktisch, diszipliniert und organisiert. Gleichzeitig inspirierte er uns und hatte Ideen, wie wir uns unseren Zielen nähern konnten – es ist sehr selten, dass diese Eigenschaften bei einer Person zusammenkommen. Waren wir ein Team, eine Familie – oder beides? Das symbiotische Verständnis, das wir, Chor und Dirigenten, gemeinsam erlangt haben, habe ich als sehr kostbar empfunden, es war eine Lehre in puncto Vertrauen und Großzügigkeit.«
»Der Rundfunkchor Berlin ist ein ganz besonderer Chor: Er macht es einem leicht, er ist enthusiastisch und hochkarätig, voller Fantasie und Stimmfarben. Ich habe die Proben sehr genossen. Und Sir Simon inspirierte durch sein Wirken uns alle, dank ihm erreichten wir ein ganz neues Level. Er verlangte uns viel ab, wir ließen uns begeistert darauf ein. Für mich war die Zusammenarbeit in Berlin der Höhepunkt meines Arbeitslebens. Und für den Chor? War es ein weiterer Schritt auf seiner wunderbaren, hundertjährigen Reise in das Herz des Berliner Musiklebens, die mit unseren Nachfolgern weitergeht.«
Wohl kein anderes Konzert im großen Saal der Berliner Philharmonie ist so schnell ausverkauft wie das jährliche Mitsingkonzert des Rundfunkchores Berlin, auf das viele Amateursängerinnen und -sänger geradezu hinfiebern. Ins Leben gerufen von Simon Halsey findet das Format 2003 erstmals statt, damals noch in etwas kleinerem Rahmen. Aber seit 2005 gibt es einmal im Jahr für 1.300 sangesfreudige Menschen die Möglichkeit, gemeinsam mit Rundfunkchor Berlin und RSB ein großes Werk der Oratorienliteratur zur Aufführung zu bringen. Ein Fest für Chorfans aller Art!
Carl Orffs »Carmina Burana« gehören zu den bekanntesten Chorwerken überhaupt. Um damit aus der Menge der Aufführungen herauszustechen, sind besondere Mühen erforderlich. Die beiden »Simons« – Rattle mit den Berliner Philharmonikern, Halsey mit dem Rundfunkchor Berlin – scheinen diese bei ihrer Zusammenarbeit nicht gescheut zu haben. Das Orchester entfacht eine große Farbpalette, der Chor nuanciert von massig (»O Fortuna«) bis frühlingswindzart (»Ecce gratum«).
Rodion Schtschedrins Chorwerk »Der versiegelte Engel« kommt im Mai 2005 als erstes Projekt der Reihe »Broadening the Scope of Choral Music« unter dem Dirigat von Stefan Parkman zur Aufführung. Auch der Komponist selbst ist anwesend, als seine von altrussischer Tonalität und Religiosität geprägte Vokal-Liturgie, begleitet allein von einer Flöte und visuell ergänzt durch Tanztheater, aufgeführt wird. Die Produktion ist gleichzeitig der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Choreografen Lars Scheibner. »Der Rundfunkchor Berlin klingt dunkel, warm, sauber und durchaus authentisch russisch, sogar in den tiefen Männerstimmen«, wird der Chor damals auf klassik.com gelobt.
Am 10. Mai 2005 wird das Holocaust-Mahnmal in Berlin eingeweiht. Wolfgang Rihms Komposition »Memoria – Drei Requiem-Bruchstücke« kommt zur Uraufführung. Eleonore Büning beschreibt die Interpretation des Rundfunkchores Berlin in der FAZ so: »Dem Chor sind erst die Worte, nun auch noch die Stimmen abhandengekommen, er wispert und ächzt, rhythmisch ausatmend im dreifachen Piano, bis sich am Ende die zugeschnürten Kehlen lauthals im Aufschrei befreien, einen hellen Knabensopran voranschickend.«
»Es ging mir darum, der A-cappella-Musik ein größeres Publikum zu erschließen«, sagt Hans-Hermann Rehberg, Chordirektor von 1990 bis 2022, über die Anfänge der Reihe »Broadening the Scope of Choral Music«. Gemeinsam mit Simon Halsey habe er überlegt, welche neuen Konzertformate man entwickeln könnte, mit denen Chormusik anders begegnet wird. »Konzerte, bei denen nach jeder Nummer geklatscht wird, fand ich immer unerträglich.« Eines Tages steht Rehberg im schon entkernten Palast der Republik, »und plötzlich höre ich, ausgerechnet an diesem Ort, Musik aus Rodion Schtschedrins ›Der versiegelte Engel‹ in meinem inneren Ohr«! Den Chefdirigenten musste er nicht lange überreden, ein Projekt für diese Räume zu planen, denn »Simon war sofort Feuer und Flamme«. Von Halsey stammt auch der Name »Broadening the Scope of Choral Music« für das langfristige Vorhaben, mit dem Rundfunkchor Berlin neue Räume zu erschließen – im reinen Wortsinne, aber auch musikalisch. Zu einer Aufführung im Palast der Republik ist es allerdings nicht mehr gekommen.
Im April 2024 dirigiert die langjährige Chordirigentin Maike Bühle zwei Liederbörsenkonzerte. Sie sagt über das Format: »Mir ist es eine Herzensangelegenheit, junge Menschen für das gemeinsame Singen zu begeistern und mit ihnen einzutauchen in die fantastische Welt der Chormusik in ihrer immensen Facettenvielfalt. Insofern ist meine Rolle als Dirigentin der Liederbörse Erfüllung pur!«
Zwei Bergsteiger, ein Schneesturm in den Anden und eine folgenschwere Entscheidung – das ist der Grundstoff der Choroper »Angst« von Christian Jost. Der Komponist nimmt die dramatische Geschichte von Joe Simpson und Simon Yates aus dem Jahr 1985 zum Anlass: Die beiden Briten wollen den Siula Grande in Peru bezwingen, doch während eines Unwetters steht ihnen ein hochgefährlicher Abstieg bevor. Yates seilt seinen Bergpartner Simpson ab, ehe er vor der Wahl steht: Entweder er lässt sich von ihm mit in die Tiefe ziehen oder er kappt das Seil, um sein eigenes Leben zu retten.
»Als ich von der Geschichte gelesen hatte, dachte ich: Das ist unsere Story. Da steckt so viel drin – das Seil ist die Nabelschnur, die Lebenslinie, der Schicksalsfaden! Der 60-stimmige Chor verkörpert kompositorisch die inneren Stimmen und die Gedanken der beiden Bergsteiger in dieser Extremsituation. Für mich war es ein einmaliges Projekt. Es hat sich maßgeblich darauf ausgewirkt, wie ich Chöre in meinem weiteren Opernschaffen eingesetzt habe.«
Christine Lemke-Matwey schreibt im Tagesspiegel: »Berlin im Grammy-Glück: Zum zweiten Mal nach 2008 gewinnen der Rundfunkchor Berlin mit seinem Chef Sir Simon Halsey und die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle gemeinsam die begehrte Trophäe in der Kategorie ›Beste Choreinspielung‹. Mit Igor Strawinskys ›Psalmensinfonie‹ setzten sie sich in Los Angeles etwa gegen das London Symphony Orchestra samt Chor durch. Die Strawinsky-CD (EMI) geht auf drei Livekonzerte Ende September 2007 in der Berliner Philharmonie zurück und versammelt außerdem dessen Sinfonie in C sowie die Sinfonie in drei Sätzen.«
Sitzfleisch, Durchhaltevermögen und wache Sinne sind im Mai 2007 bei rund 800 Besucher:innen im Hamburger Bahnhof in Berlin gefragt. Die ganze Nacht hindurch, von 22 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, dauert die Aufführung von John Taveners Komposition »The Veil of the Temple« in der Inszenierung des niederländischen Regisseurs Rogier Hardeman. Fünf Chöre treten auf, Texte aus allen Weltreligionen hallen durch das Museum, denn in dem Stück fragt Tavener, welche Rolle religiöse Traditionen bei der Suche nach Transzendenz spielen. Ein Wachtraum!
Sich öffnen, das bedeutet für den Rundfunkchor Berlin auch, sich stärker an die migrantische Community zu richten. Gemeinsam mit dem Konservatorium für Türkische Musik Berlin veranstaltet die ROC in der Saison 2007 / 2008 vier Konzerte, bei denen deutsche und türkische Musiker:innen für ein deutsches und türkisches Publikum spielen. Bei einem Auftritt in der Berliner Heilig-Kreuz-Kirche singen der Rundfunkchor Berlin und der Chor des Konservatoriums gemeinsam christliche und islamische Fest- und Feiertagslieder.
600 weiße Handtücher liegen akkurat gestapelt auf der Bühne. Nacheinander treten die Sänger und Sängerinnen des Rundfunkchores Berlin vor, um Wasser aus Schalen zu schöpfen und sich gegenseitig die Hände zu waschen, während im Hintergrund ein Videotriptychon Bilder von Leid und Zerstörung zeigt. In der Inszenierung des Regisseurs Hans-Werner Kroesinger gewinnen die Fragen nach Schuld, Sühne und Vergebung, die Ernst Pepping ins Zentrum seines »Passionsbericht des Matthäus« gestellt hat, auch visuell an drängender Kraft. »Ich frage mich oft, warum dieses phantastische Stück nicht häufiger aufgeführt wird«, sagt Dirigent Stefan Parkman, der das Werk mit dem Rundfunkchor Berlin auch auf CD eingespielt hat, »und ich glaube, die Antwort lautet schlicht: Es ist sehr schwer zu singen.« Darüber hinaus rührt Peppings doppelchöriges A-cappella-Oratorium, das 1950 entstand, an tief sitzende Traumata und verdrängte Schuldgefühle, von denen viele Deutsche nach 1945 heimgesucht wurden. Das betraf auch den Komponisten selbst, der kein aktiver NS-Parteigänger gewesen war, aber auf Hitlers »Gottbegnadeten«-Liste stand.
»Die Luther’schen Choräle kann ich nicht verwenden, die gehören nicht zu mir«, erklärt James MacMillan zur Komposition seiner Johannes-Passion, die der Rundfunkchor Berlin gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra, dem Royal Concertgebouw Orchestra und dem Boston Symphony Orchestra bei dem schottischen Komponisten in Auftrag gegeben hat. Als gläubiger Katholik lässt MacMillan stattdessen Teile der katholischen Karfreitagsliturgie in seine Komposition einfließen. Auch die Rollenverteilung zwischen Solo- und Chorgesang ist eine andere als bei Bach: Nur Jesus selbst wird von einem Solisten gesungen. Ein kleines Vokalensemble tritt als Evangelist auf, alle anderen Figuren werden vom großen Chor dargestellt – ein wahres Sängerfest für den Rundfunkchor Berlin, der im März 2009 unter Leitung von Simon Halsey und in einer Choreografie von Lars Scheibner die deutsche Erstaufführung auf die Bühne des Berliner Konzerthauses bringt.
Ein umfangreiches Programm absolviert der Rundfunkchor Berlin 2009 beim Festival d’Aix-en-Provence. Gleich an zwei Opern arbeitet man parallel, an Richard Wagners »Götterdämmerung« mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle und an Wolfgang Amadeus Mozarts »Idomeneo« mit Les Musiciens du Louvre und Marc Minkowski als Dirigent. Auf dieser sechs Wochen langen Gastspielreise, einer der längsten des Chors überhaupt, wohnt das Management-Team gemeinsam in einem Haus. Man lebt und arbeitet in dieser Zeit mit Chefdirigent Simon Halsey und Chordirektor Hans-Hermann Rehberg unter einem Dach, isst zusammen und nutzt die Gelegenheit, tagtäglich über alle Themen des Choralltags zu sprechen und die Zukunft zu planen.
Catherine Hense, seit 1988 Mitglied im Rundfunkchor Berlin, berichtet: »›Idomeneo‹ wurde im Innenhof eines sehr alten Gebäudes mit vier Seiten aufgeführt. Die Seitengänge wurden in dieser Inszenierung mit bespielt. ›Idomeneo‹ ist die chorreichste von Mozarts Opern. Beeindruckend fand ich die Bühnengestaltung, bestehend aus drei auf Rollen fahrenden Eisengerüsten, die während der gesamten Inszenierung bewegt wurden. Neben den Sängersolisten und uns gab es auch fantastische Tänzer. Und im Gegensatz zu unseren eleganten, weiß gehaltenen Abendroben einer elitären Gesellschaft in der ›Götterdämmerung‹ waren wir in ›Idomeneo‹ das gemeine Volk, in schwarzen Kleidern und mit weiß geschminkten Gesichtern. Die Arbeit mit den Regisseuren und den beiden tollen Dirigenten, Sir Simon Rattle und Marc Minkowski, hat uns zu Höchstleistungen getrieben.«
Im Jahr 2010 ist der Rundfunkchor Berlin im Techno-Mekka Berghain zu Gast. Lars Scheibner inszeniert dort Gustav Holsts Kammeroper »Sāvitri«. Isabelle Voßkühler, seit 1997 festes Chormitglied, blickt zurück: »Ich erinnere mich, dass es sehr dunkel und sehr dreckig war. Es war interessant, das Berghain mal von innen zu sehen, man kommt da ja sonst nicht rein. Ich finde es reizvoll, Klassik in ungewöhnlichen Räumen auf die Bühne zu bringen, aber ich bin kein Clubtyp, vielleicht war es deshalb für mich etwas gewöhnungsbedürftig. Ich weiß noch, dass wir unsere Gesangsparts auf einer Wendeltreppe gesungen haben. Und in der Inszenierung gab es diese fantastischen Kontorsionist:innen, die sich verbogen und verdreht haben, das war toll. Insgesamt eine spannende Erfahrung.«
Jörg Schneider, seit 1989 Mitglied des Rundfunkchores Berlin, blickt auf ganz besondere Momente seiner Sängerkarriere zurück: »Zu meinen kostbarsten Erlebnissen gehören die Aufführungen der Matthäus-Passion, die 2010 von Sir Simon Rattle und dem Regisseur Peter Sellars mit dem Rundfunkchor Berlin und den Berliner Philharmonikern halbszenisch dargeboten wurden. Peter Sellars hat über die Inszenierung treffend gesagt: ›Es ist kein Theater, es ist ein Gebet, eine Meditation‹. Diese Art der Aufführung hat alle Mitwirkenden emotional und musikalisch enorm gefordert und bereichert. Einige Jahre später – 2014 – gastierten wir mit dieser Produktion in London, Luzern und New York. Diese Aufführungen haben das Gemeinschaftsgefühl im Chor und die Beziehung zu den Philharmonikern sehr gestärkt. Das wirkt bis heute nach.«
Die Berliner Grundschulen stehen im Fokus des Bildungsprogramms »Sing!«, das im Jahr 2011 startete. Für einen Zeitraum von jeweils drei Jahren entsendet der Rundfunkchor Berlin an die beteiligten (im Durchschnitt etwa sieben) Schulen Chorleiter:innen, die wöchentlich mit den Kindern singen und auch für die musikpädagogische Fortbildung der Lehrer:innen zuständig sind. Ziel ist es, auch fachfremde Lehrkräfte so zu qualifizieren, dass regelmäßiges Singen auch nach Beendigung des Projekts integraler Bestandteil des Unterrichts sein kann. Patensänger:innen aus dem Rundfunkchor Berlin unterstützen »Sing!« mit regelmäßigen Schulbesuchen. Höhepunkt ist die jährliche »Liederbörse«, ein großes Konzert in der Berliner Philharmonie, bei dem die Schulkinder gemeinsam mit dem Rundfunkchor Berlin singen dürfen.
Auch die f-Moll-Messe Anton Bruckners gehört zu den Werken, die der Rundfunkchor Berlin über viele Jahrzehnte immer wieder gesungen hat, zusammen mit verschiedenen Orchestern und unter sehr unterschiedlichen Dirigenten. Unter allen Aufführungen ist vielleicht jene als besonderes Highlight herauszugreifen, die Herbert Blomstedt 2011 in der Berliner Philharmonie dirigiert. Die Berliner Morgenpost urteilt damals: »Ein glorioser Abend. Mit der Aufführung der f-Moll-Messe von Bruckner unter Herbert Blomstedts hochkonzentrierter, eindringlicher Leitung sang der Rundfunkchor an der Seite der Philharmoniker derart werkgemäß, dass man versucht war, am Ende statt ›Bravo‹ ›Amen‹ zu rufen.«
Sir Simon Rattles Gästebucheintrag vom 18.9.2011: »Dear beloved Rundfunkchor! After Lotti, Tallis, Mahler – what to say really? Just that you manage the impossible, which is to keep developing constantly. And that we all feel closer together every time – it is, with you, one of the most treasured musical relationships in my life. I feel privileged and happy that we are a family! With gratitude, love and deep respect, Simon Rattle«.
»Geliebter Rundfunkchor! Nach Lotti, Tallis, Mahler – was soll man da eigentlich sagen? Nur, dass Sie das Unmögliche schaffen, nämlich sich ständig weiterzuentwickeln. Und dass wir uns alle immer enger zusammengehörig fühlen – das mit Ihnen ist eine der wertvollsten musikalischen Beziehungen in meinem Leben. Ich fühle mich geehrt und glücklich, dass wir eine Familie sind! In Dankbarkeit, Liebe und mit tiefem Respekt, Simon Rattle«.
Die wenigen Werke, die Richard Strauss für unbegleiteten Chor schrieb, sind außergewöhnlich schwer zu singen und werden sehr selten aufgeführt. Eine rare Gelegenheit, ihren klanglichen Farbreichtum live zu erleben, bietet der Rundfunkchor Berlin im April 2011 mit einem Wandelkonzert im Neuen Museum: ein ungewöhnliches Projekt im Rahmen von »Broadening the Scope of Choral Music«, da die Musik im Zusammenhang mit diesem sehr besonderen räumlichen Kontext gleichsam neu beleuchtet wird. »Die lichtintensiven, farbenprächtigen Gesänge (…) traten mit den Fundstücken griechischer und ägyptischer Hochkultur in festlichen Bezug«, schreibt damals die FAZ über das »grandiose Konzert«.
In der Zusammenarbeit des Rundfunkchores Berlin mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle sind mitunter seltener gespielte Werke zu entdecken. Dazu zählt Sergei Rachmaninoffs Chorsinfonie »The Bells« von 1913, ein spätromantisches Farbenfest. Der Chor strahlt, glüht verhalten, ganz wie es diese lautmalerische Tondichtung nach Edgar Allan Poe erfordert. Selbst wem das Werk zu schwülstig sein sollte, dürfte am Ende von diesem Chor überzeugt werden!
Das »human requiem« ist ein echter Klassiker des Rundfunkchores Berlin geworden; das von Regisseur Jochen Sandig und einem Team von Sasha Waltz & Guests entwickelte Stück wird seit Jahren weltweit aufgeführt. Jochen Sandig blickt zurück: »Meine persönliche Reise mit diesem einzigartigen Chor begann 2012 mit der Uraufführung des ›human requiem‹ im Radialsystem, und sie dauert bis heute an. Ich hatte 2006 das Haus am Spreeufer gemeinsam mit Sasha Waltz, Folkert Uhde und weiteren Partnern gegründet, um eine Heimat für außergewöhnliche Kreationen in Berlin zu schaffen – einen »new space for the arts«. Nach sechs Jahren sollte ich mir einen großen Wunsch erfüllen: das ›Deutsche Requiem‹ von Johannes Brahms als ein raumgreifendes szenisches Ritual zu entwickeln. Dieses Projekt musste genau an diesem Ort in Berlin entstehen. Das Konzept der Inszenierung ist lange in mir gereift. Ich hatte immer die Sehnsucht, gerade dieses Werk sehr nah an die Menschen heranzuführen. Brahms hat es als sein ›menschliches Requiem‹ bezeichnet, so kam ich auf den Titel. Ich bin Sasha Waltz dankbar, dass sie mich ermutigt hat, selbst Regie zu führen. Und ich bin dem Rundfunkchor Berlin dankbar, dass er mir vertraut hat. Wir konnten nicht ahnen, wohin es uns führen wird, und es gab viele Zweifel. Mit einem Team von Sasha Waltz & Guests machten wir uns an die Arbeit und es geschah ein Wunder: Der Chor hat uns alle verwandelt. Eine Transformation, die sich immer wieder aufs Neue vollzieht. Die Produktion ging auf Welttournee und wurde in ganz Europa, Asien, Amerika und Australien bejubelt – die New York Times sprach gar von der ›anthem of our time‹.«
Zum Auftakt der Osterfestspiele Baden-Baden 2013 dirigiert Sir Simon Rattle Mozarts »Zauberflöte« mit den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin. Während die Inszenierung Robert Carsens von der Presse unterschiedlich aufgenommen wird, gibt es einhelliges Lob für den Rundfunkchor Berlin. Die Stuttgarter Nachrichten und die Pforzheimer Zeitung heben unisono den »exzellent singenden« Chor hervor, der Mannheimer Morgen hört einen »strahlkräftig« gesungenen Schlusschor, und das Offenburger Tageblatt hält ganz grundsätzlich fest: »Der Rundfunkchor Berlin bewies, dass er zu den besten Chören nicht nur Deutschlands gehört.«
Die Liebe tanzt, die Liebe trommelt, die Liebe trotzt, die Liebe tröstet. Christian Jost bringt in »Lover« das Kampfkunst- und Tanzkollektiv U-Theatre Taiwan mit dem Rundfunkchor Berlin zu einer gemeinsamen Performance zusammen. Inspiriert von Gedichten des US-Schriftstellers E. E. Cummings und alter chinesischer Liebeslyrik, erzählt Jost in dem Musik-Tanz-Theater-Stück vom größten Gefühl der Welt.
»Für viele Beteiligte und für mich war das ein ganz besonderes Erlebnis. Der krasse Industriebau des Kraftwerks ist ein außergewöhnlicher Ort für eine Inszenierung, die Perkussionisten haben dem Stück eine ganz eigene Wucht gegeben. Später waren wir mit ›Lover‹ auf Asientour. Aus dieser Reise habe ich enorm viel Kraft geschöpft.«
Gijs Leenaars ist seit 2015 Chefdirigent des Rundfunkchores Berlin. Hier spricht er über Intonationskorrekturen und Klangfarben und seine bisherigen Highlights.
Gijs Leenaars: Besser erinnere ich mich an die erste Probe, nachdem ich das Bewerbungsverfahren gewonnen, aber die Stelle noch nicht angetreten hatte. Da durfte ich das Brahms-Requiem für Christian Thielemann einstudieren, das war ziemlich spannend.
Ob es gelungen ist, müssten andere beurteilen. Und was ich gemeint habe … Ich versuche immer dazu zu ermutigen, über die Atmung und den Körper zu singen. Es ist üblich, zum Beispiel bei Intonationskorrekturen, dem Ton eine hellere Färbung zu geben, wenn er zu tief ist. Ich halte das nicht für richtig, weil man damit ja auch die Technik beeinflusst. Es würde in letzter Konsequenz heißen, dass man nur mit heller Stimmfärbung sauber intonieren kann. Aber das ist falsch; man muss ja auch schön rund und dunkel singen können und trotzdem den Ton hoch genug treffen. Intonation muss über Tonhöhe gelöst werden, nicht über Klangfarbe. Ich würde jedenfalls sagen, dass wir, verglichen mit anderen Rundfunkchören, auf einer Hell-dunkel-Skala etwa in der Mitte sind. Ich finde das sehr schön.
Auf jeden Fall alles mit Kirill Petrenko! Es ist absolut großartig, mit ihm zu arbeiten. Ein weiteres Highlight, in emotionaler Hinsicht, war für mich das Weihnachtskonzert zum Thema Ukraine – wir hatten damals selbst eine ukrainische Familie bei uns zu Hause wohnen. Und dann vielleicht das »human requiem«. Dabei ist es musikalisch heikel; oft hat man durch die ständige Bewegung das Gefühl, nicht zusammen zu sein. Aber es ist jedes Mal so ein überwältigendes Erlebnis – für das Publikum, aber für uns auch.
Als 2013 die Planungen für das erste szenische Weihnachtskonzert des Rundfunkchores Berlin beginnen, kann niemand ahnen, dass die Aufführung im Berliner Dom zwei Jahre später in eine schicksalhafte Zeit fallen würde. 2015, zur Zeit des großen Flüchtlingszustroms aus dem syrischen Bürgerkrieg, kommt der weihnachtlichen Thematik eine ganz besondere Bedeutung zu. »Mir ging es darum, zu schauen, wie wir mit dem Fremden und mit fremden Traditionen umgehen«, erklärt Regisseurin Jasmina Hadžiahmetović zu ihrem szenischen Konzept. Das Miteinander verschiedener Kulturen spiegelt sich auch im Programm wider: In verschränkter Abfolge erklingt Musik von Sergei Rachmaninoff, Thomas Adès sowie eine Uraufführung: zwei Chorzyklen, die Rainer Schnös eigens für den Rundfunkchor Berlin auf Texte des persischen Dichters Monzer Masri geschrieben hat.
Sein 90. Jubiläum im Jahr 2015 nimmt der Rundfunkchor Berlin zum Anlass für einen Rückblick auf seine Vergangenheit und kehrt zurück an seine frühere langjährige Wirkungsstätte in Berlin-Oberschöneweide, um dort noch einmal groß zu feiern. Einen Nachmittag und einen Abend lang werden die ehrwürdigen Hallen des Funkhauses Nalepastraße mit einem Konzertmarathon bespielt, bei dem das Publikum einen klingenden Parcours durch das große Gebäude an der Spree erlebt. Der Chor singt in vielen verschiedenen Formationen Vokalmusik des 20. Jahrhunderts. Als Stargast tritt der US-amerikanische Organist Cameron Carpenter auf, der mit seiner eigenen Orgel angereist ist.
»Die Kunst des Alleinseins« kann ein Thema sein oder »Apokalypse« als Motto über einem Abend stehen. Oder wir fragen etwas provokant »Zum Wohl?«, wenn wir uns einen Abend lang mit Gespräch und Gesang dem Thema Alkohol widmen. Aus der Kammermusikreihe des Chors entstanden, entwickelt sich die RundfunkchorLounge seit ihren Anfängen im Jahr 2016 zu einem populären Termin im Berliner Musikleben – mit interessanten Gästen und unerwarteter Musik. Nach mehreren Jahren im silent green zieht die Veranstaltungsreihe 2022 aus dem Wedding in den Heimathafen Neukölln. Moderatorin ist inzwischen die gebürtige Neuköllnerin Boussa Thiam.
Hm, welche komischen Verse singt der Rundfunkchor Berlin denn da? »Wir fahren sogar bis nach Spandau« erklingt in hellem Sopran, im Kanongesang ertönt der Satz »Bus ist besser als kein Bus«, ein Frauentrio singt die Worte: »Schwarzfahren kostet noch mehr«. Ja, richtig, es geht um Nahverkehr, es geht um die Berliner Verkehrsbetriebe, kurz: die BVG. 2017 macht der Rundfunkchor Berlin mit bei #weilwirdichlieben, der Werbekampagne der BVG. Chorsänger:innen singen dabei in kurzen Clips die schrägsten Dialoge zwischen der BVG und ihren Fahrgästen.
Das Lutherjahr 2017 beschert dem Rundfunkchor Berlin eine ganz besondere Produktion: »LUTHER – DANCING WITH THE GODS« ist die erste Zusammenarbeit mit Starregisseur Robert Wilson. Wilson erinnert sich:
»Fast alle meine Arbeiten beinhalten Musik, aber ›LUTHER‹ war insofern etwas Besonderes, als ein exzellenter Chor auf zwei hervorragende Schauspieler:innen traf – auf Jürgen Holtz und die berühmte griechische Schauspielerin Lydia Koniordou.
Mit den Mitgliedern des Rundfunkchores Berlin zu arbeiten, war eine tolle Erfahrung. Sie waren meinem Ansatz gegenüber sehr offen, hatten ein tiefes Verständnis für abstrakte Formen. Der Klang des Chors faszinierte mich. Gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Gijs Leenaars wollte ich zudem einen möglichst perfekten Umgebungsklang in der einzigartigen Architektur des Pierre Boulez Saals schaffen.
Die ovale Form des Raums, Bachs vier Motetten auf der Grundlage von Luthers Bibelübersetzung, protestantische Choräle, Knut Nystedts ›Immortal Bach‹ und Steve Reichs ›Clapping Music‹ – all das kontrastierte mit Texten von Luthers Tischreden und Worten aus der Bibel in Lateinisch und Deutsch. Vielleicht war ›LUTHER‹ eine theatrale Reflexion darüber, was einen dazu bringt, wirklich an das zu glauben, was man denkt und tut: durch alle Zweifel hindurch an eine starke neue Idee der Veränderung.«
»Die ›Missa solemnis‹ ist, technisch gesehen, eigentlich unsingbar«, sinniert Chefdirigent Gijs Leenaars in einem Videointerview. Und Rundfunkchor-Bassist Rainer Schnös erklärt: »Das Schwierige an dem Stück ist, dass es sehr lang ist, dass man wenig Pausen hat und dass das meiste sehr, sehr laut ist und sehr, sehr hoch.« Als Vorbereitung auf das Beethovenjahr 2020 wird die »Missa impossible« für den Rundfunkchor Berlin bereits 2018 zum Anlass und Beginn einer aufwendigen Multimediamission, die viele Früchte trägt und bis zum heutigen Tag nicht ganz abgeschlossen ist. Bei Aufführung der Messe im Oktober 2018
muss improvisiert werden: Nach Wochen des Einstudierens erkrankt Gijs Leenaars kurz vor dem Konzerttermin. Zum Glück kann Marek Janowski, der das Werk schon viele Male dirigiert hat, kurzfristig einspringen. Die Aufführung wird zum Triumph für ihn und den Rundfunkchor Berlin. Oder wie Chormitglied David Stingl sagt: »Es macht auch Spaß, in so einer großen Menge so viel Lärm zu produzieren!«
Kirill Petrenkos Antritt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker wird im August 2019 mit einem gigantischen Konzert vor 35.000 Besucher:innen am Brandenburger Tor und Beethovens Neunter begangen. Chormitglied Catherine Hense blickt zurück: »Tausende Berliner:innen begrüßten den ›Neuen‹ in der Stadt, man spürte eine große Verbundenheit zwischen den Künstler:innen und der Bevölkerung. Das war beeindruckend, geradezu euphorisierend!«
Das große Beethovenjahr 2020 fällt sehr unglücklich mit der kritischsten Phase der Coronapandemie zusammen. Für Chöre ist die gemeinsame Arbeit weitgehend unmöglich geworden, zahllose geplante Aufführungen von Beethovens »Missa solemnis« können nicht stattfinden. Dennoch gelingt es dem Rundfunkchor Berlin, ein von der »Missa« inspiriertes, sehr besonderes Projekt zu realisieren: Für die Produktion THE WORLD TO COME, an der zahlreiche Künstler:innen aus anderen Musiksparten beteiligt sind, werden die unterirdischen Katakomben des Neuköllner Vollgutlagers und des daneben liegenden Clubs SchwuZ bespielt. Pandemiebedingt gestaltet sich die Organisation viel aufwendiger als ursprünglich geplant. »Wir haben versucht, aus der Not eine Tugend zu machen«, erklärt Regisseur Tilman Hecker: »Aus der Konzertinstallation, die es eigentlich werden sollte, haben wir ein kleines Festival gemacht mit zehn verschiedenen Spielorten und Bühnen.« Der große Konzertparcours mit Maske und Abstand dürfte für viele Besucher:innen eines der prägenden musikalischen Erlebnisse des Jahres 2020 sein.
Wo gesungen wird, schwirren extrem viele Aerosole herum – deshalb sind Chöre ganz besonders von der Coronapandemie betroffen. Auch der Rundfunkchor Berlin muss coronabedingt pausieren, im Frühjahr 2020 fallen Aufführungen aus, das Fest der Chorkulturen fällt ebenfalls dem Virus zum Opfer. Trotzdem wird gesungen – im Stream. Beim »Sing Along Concert online«, einer Koproduktion der Chor-Organisation Interkultur mit dem Rundfunkchor Berlin, übt Ex-Chefdirigent Simon Halsey das »Deutsche Requiem« von Johannes Brahms mit interessierten Chorsänger:innen aus aller Welt via Zoom ein. Besonders passend in Zeiten heimischer Isolation ist der 4. Satz des Brahms-Requiems: »Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! / Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herrn / mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott / Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar.«
Durch den Tiergarten spazieren, dem Rundfunkchor Berlin lauschen: Das geht im Mai 2021, trotz Coronapandemie, in einem von der Kulturmanagerin Carolin Trispel entwickelten Klangparcours. Ausgewählte Stücke unter anderem von Mozart, Brahms, Schumann sowie Philip Mayers und Bruno Maderna sind dort mit einem Klick auf einen QR-Code zu hören. Carolin Trispel sagt seinerzeit über das Projekt: »Der Produktionsbetrieb des Rundfunkchores Berlin ist durch die Pandemie mit Hygienemaßnahmen und Kurzarbeit erschwert gewesen. Also suchten wir nach Möglichkeiten, den Gesang des Chors auf eine neue Weise an die Menschen in der Stadt heranzutragen. Da es bereits sehr viele großartige Aufnahmen des Rundfunkchores Berlin bei Deutschlandfunk Kultur und bei Sony gibt und das Spazierengehen im vergangenen Jahr eine große Konjunktur erlebt hat, entstand bald die Idee des Klangspaziergangs, bei dem diese Aufnahmen zur Geltung kommen.«
»Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten? Ist das alles nur ein großer, furchtbarer Spaß?« Das sind, in Gustav Mahlers eigenen Worten, die zentralen Fragen in seiner zweiten Sinfonie. »Auferstehungssinfonie« wird sie auch oft genannt: nach Friedrich Klopstocks Gedicht »Auferstehung«, das dem Komponisten als Grundlage für die mächtige Schlusskantate diente. Schon ihretwegen ist »Mahler 2« ein Glanzstück für jeden Chor – auch für den Rundfunkchor Berlin ist sie ein All-time-favourite. Besonders denkwürdig und bewegend für alle, die dabei sein können, ist die Aufführung mit den Berliner Philharmonikern unter Gustavo Dudamel am 26. Februar 2022 – zwei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Mit dem transdisziplinären Projekt »Time Travellers« ging der Rundfunkchor Berlin 2022 auf Zeitreise. Das Konzept entwarfen die Künstler Nick und Clemens Prokop. Ihr Statement: »Was für eine aufregende Erfahrung, ›Time Travellers‹ ganz auf ein Ensemble vom Format des Rundfunkchores Berlin hin zu entwickeln. Trotzdem bleibt das Abenteuer ›unfinished business‹: Lockdownbedingt schlummert die erste Vision ungezeigt auf unseren Servern. Die zweite Vision markiert, neu gedacht und neu erzählt, das Ende der Corona-Zeitreise: unglaublich, welche Leistung Dirigenten, Chor und Management unter widrigen Umständen abgerufen haben. Aller guten Dinge sind drei: Wir wünschen uns und dem Rundfunkchor Berlin, endlich die ganze Geschichte erleben zu können.«
Vier Fragen an Chordirektorin Rachel-Sophia Dries
Rachel-Sophia Dries: Wie der Rundfunkchor Berlin selbst, so ist das Programm zu seinem Jubiläum ein schillerndes Gebilde, das viele Facetten hat. Die Jubiläumssaison zeichnet sich durch eine große Vielfalt aus. Wenn ich ein Projekt herausheben sollte, wäre das die Produktion »Flying Mozart«. Mit der weltberühmten Breakdance-Gruppe »Flying Steps« zusammenzuarbeiten, ist ein lang gehegter Wunsch. Ich freue mich, dass er zum 100. wahr wird.
Die zentrale Frage, neben einigen anderen, die uns im Jubiläumsjahr beschäftigen, ist die nach der Zukunft: Wie sehen die nächsten 100 Jahre aus und welche Rolle spielen darin die Rundfunk-Ensembles? Um diese Frage möglichst vielseitig zu betrachten, haben wir sie im Rahmen eines Ideenwettbewerbs in die Gesellschaft gegeben. Ich bin sehr neugierig auf die Beiträge, die uns erreichen werden und auf deren Basis wir zukünftig Konzertformate umsetzen werden.
Der Rundfunkchor Berlin ist seit rund 20 Jahren Wegbereiter für Community-Projekte und experimentelle Formate. Ob Mitsingkonzerte, szenische Projekte an ungewöhnlichen Orten oder die Zusammenarbeit mit Partner:innen anderer Kunstformen: Hier haben wir schon viel erreicht, um uns der Gesellschaft weiter zu öffnen. Mein Wunsch für die Zukunft ist, dass es der gesamten Klassikszene gelingt, noch mehr Schwellen abzubauen und den Menschen klarzumachen: Ihr seid alle willkommen – unabhängig von Vorkenntnissen, Einkommen oder Herkunft. Die Branche muss immer noch diverser und partizipativer werden.
Es ist schmerzhaft zu sehen, dass die weltweit einmalige Art, wie in Deutschland Kultur staatlich gefördert wird, immer wieder infrage gestellt wird. Dabei ist die deutsche Orchester- und Theaterlandschaft nicht umsonst immaterielles Weltkulturerbe! Kultur ist nicht nur wichtig für Demokratie, Zusammenhalt und Selbstreflexion, sie ist auch ein immenser Wirtschaftsfaktor. Es ist unsere Aufgabe, in den kommenden Jahren diese positiven Narrative zu stärken, indem wir noch sichtbarer werden, in den Konzertsälen, aber eben auch in den Medien und in der Breite der Gesellschaft.
Im Dezember 2022 singt der Rundfunkchor Berlin mit Megaloh den neu interpretierten Weihnachtsklassiker »Stille Nacht, eisige Nacht« als Adventsüberraschung für den Berliner Verein InteGREATer e. V. Initiiert wird die Aktion vom rbb.
Uchenna van Capelleveen (Megaloh): In guter Erinnerung! Ich denke an nette Menschen, die eine gemeinsame Liebe zur Musik verbindet. Es hat mich gefreut, dass wir gemeinsam nach Moabit gegangen sind – es ist das Berliner Viertel, in dem ich aufgewachsen bin. So konnten wir den Kids und Jugendlichen ein Stück Musik geben und das Signal aussenden, dass sie wichtig sind und gesehen werden. Ein Projekt mit so vielen Menschen zu koordinieren ist nicht einfach, aber ich finde, es hat gut geklappt!
Mich hat beeindruckt, wie groß und vielfältig dieser Chor ist. Als Laie stellt man sich einen Chor meist als eine homogene Masse vor, die dann eine große Stimme bildet, aber wenn man ihn aus der Nähe sieht, erkennt man ein schönes Mosaikbild, das aus vielen wichtigen Farbtupfern besteht.
Klassische Chormusik und Rap scheinen auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben. Wie haben Sie die Kombination von Chorklang und Rap erlebt?
Eine wichtige Säule in der Rapmusik ist oft das Sampling, bei dem jedwede Musik ausgegraben und passend zum Beat wieder neu zusammengesetzt werden kann und soll – insofern war mir die Macht eines Chors im Hip-Hop-Kontext nicht komplett fremd. In unserem speziellen Fall haben wir aber auf den Beat verzichtet und wirklich nur Stimmen die gesamte Musik machen lassen, obwohl wir es bei »Stille Nacht, eisige Nacht« auch mit einem im Rapkontext eher ungewöhnlichen Rhythmus zu tun hatten. Vielen Dank für die tolle Zusammenarbeit!
Der Rundfunkchor Berlin und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin geben am 15. März 2022 ein Solidaritätskonzert für die Ukraine, die kurz zuvor von Russland überfallen worden war. Schirmherrin ist die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth.
Claudia Roth: Ich denke vor allem an die bewegende Stimmung und die tiefe Ergriffenheit im Saal. Wir standen ja alle noch unter Schock, dass Russland diesen Angriffskrieg begonnen hat. Kaum jemand hatte es für möglich gehalten, dass es in Europa wieder einen Krieg geben würde und unser Traum von einem friedlichen und zusammenwachsenden Europa in dieser Weise zerstört würde. Es war sehr wichtig, in dieser Lage ein Zeichen der Solidarität und des Zusammenhalts, ein Zeichen für Demokratie und Frieden zu setzen. Ich bin den vielen Künstlerinnen und Künstlern, die an dem Abend mitgewirkt haben, sehr dankbar, dass sie dieses Benefizkonzert so schnell auf die Bühne der Philharmonie gebracht haben.
Das wichtigste Signal war die tiefe Solidarität mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Wir haben deutlich gemacht, dass die Menschen in der Ukraine und die ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland nicht allein sind: Sie sind Teil einer europäischen Wertegemeinschaft, die auf Freiheit und Demokratie basiert. Zudem hat das Konzert sehr eindrucksvoll gezeigt, wie eigenständig und reichhaltig die ukrainische Kultur ist – ganz im Gegensatz zu dem, was das Putin-Regime behauptet.
Mit Verdis Spätwerk »Quattro pezzi sacri« verbindet den Rundfunkchor Berlin eine lange Aufführungsgeschichte. In diesen vier Stücken, von denen zwei a cappella gesungen werden, kann ein Chor alle Register seines musikalischen Könnens ziehen. Der Rundfunkchor Berlin und Gijs Leenaars stellen dies in ihrer Einspielung, die 2022 bei Sony erschienen ist, unter Beweis. Das Magazin Rondo schreibt dazu: »Beim ›Stabat Mater‹ sorgen Chor und Musiker für Gänsehaut, wenn sich der Klang (…) zu einem Moment höchster Intensität steigert, um dann sachte zu verlöschen.«
Giuseppe Verdis Requiem steht seit Jahrzehnten regelmäßig auf dem Programm des Rundfunkchores Berlin und ist doch immer wieder anders zu erleben. Eine für den Chor wie für das Publikum ganz besondere Erfahrung ergibt sich 2023 in der Zusammenarbeit mit Christian Spuck, dem designierten Intendanten des Staatsballetts Berlin, der seine Choreografie des Verdi-Requiems mit dem Rundfunkchor Berlin umsetzt.
Was eine Beatboxerin im Verhältnis zum Schlagzeug ist, das leistet der Chor an manchen Stellen von Rachmaninoffs Versperliturgie für die Kirchenglocken. Auch den Klang einer Orgel lässt der Komponist in diesem facettenreichen A-cappella-Werk mit vokalen Mitteln nachempfinden. Doch hauptsächlich ist »Ganznächtliche Vigil« an den religiösen Ritualen der russisch-orthodoxen Kirche orientiert. Im Rundfunkchor Berlin hat sich mit der Zeit die Tradition herausgebildet, das Werk stets dann ins Programm zu nehmen, wenn es einen runden Geburtstag des Komponisten zu feiern gibt. Im Jahr 2023 – Rachmaninoff wäre 150 geworden – findet die Aufführung im Rahmen des Musikfests Berlin statt. Chefdirigent Gijs Leenaars misst der Stückauswahl eine zusätzliche Bedeutung bei: »Die in der ›Ganznächtlichen Vigil‹ enthaltene Bitte nach Frieden ist heute wichtiger denn je.«
Herbert Grönemeyer hat den Rundfunkchor Berlin in Robert Wilsons Bach-Inszenierung »LUTHER dancing with the gods« gehört und ist so beeindruckt, dass er ihn wenige Jahre später, 2023, für einen gemeinsamen Auftritt mit »Kaltes Berlin« auf dem Weihnachtsmarkt in der Kulturbrauerei anfragt. Gijs Leenaars: »Als der Anruf von der Agentur kam, war klar, dass wir das unbedingt machen wollen, obwohl wir, so kurz vor Weihnachten, eigentlich überhaupt keine Zeit hatten. Aber das ging dann außerhalb der normalen Dienste.« Und der adventliche Auftritt soll auch nicht der letzte gemeinsame gewesen sein …
Felix Mendelssohn Bartholdys großes Oratorium »Elias« ist fester Bestandteil des Repertoires vieler Kantoreien und Amateurchöre in Deutschland und weltweit. Der Rundfunkchor Berlin kam eher selten in den Genuss, das Werk aufführen zu können. 2023 aber findet eine besonders eindrucksvolle Aufführung statt, mit Christian Gerhaher als Elias und Kirill Petrenko am Pult der Berliner Philharmoniker. Und nur ein Jahr später ist Mendelssohns beliebtestes Oratorium auf ganz besondere Weise Teil des Saisonprogramms: Am 28. April 2024 wird der »Elias« von 1.300 Sängerinnen und Sängern im seit Langem ausverkauften Mitsingkonzert intoniert – dirigiert von unserem Ehrendirigenten Simon Halsey.
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