Interviews

Auf ein Wort mit Rachel-Sophia Dries

Rachel-Sophia Dries wird als neue Chordirektorin des Rundfunkchors Berlin am 1. August 2022 die Nachfolge von Hans-Hermann Rehberg antreten.
Nach ihrem Studium der Musikwissenschaft und Italianistik an der Humboldt- und Freien Universität Berlin bereitete sie beim Deutschen Chorverband 2011 die erste Chormesse chor.com vor und arbeitete unter anderem im Management von Max Raabe und seinem Palastorchester. Von einem leitenden Posten an der Schaubühne am Lehniner Platz kommt sie nun zu ihrer alten Wirkungsstätte zurück, denn bereits von 2011 bis 2018 war sie im Bereich Marketing und Kommunikation für den Rundfunkchor Berlin tätig. Im Interview berichtet sie von neuen Aufgaben und Herausforderungen, denen ein Profichor in unserer Zeit gegenübersteht und verrät, weshalb sie zum Rundfunkchor Berlin zurückkehrt.

Du wirst im August dieses Jahres als Nachfolgerin von Hans-Hermann Rehberg die neue Chordirektorin des Rundfunkchors Berlin. Mit welchen Gedanken und Gefühlen trittst du diese Aufgabe an?

Es sind eigentlich zwei Gefühle: Freude und Respekt. Der Respekt ist durchaus angebracht, weil Hans Rehberg diesen Job über 30 Jahre gemacht hat, und das wahnsinnig gut. Er hat es geschafft, nach dem Fall der Mauer aus diesem Chor ein internationales Spitzenensemble zu machen, das nicht nur aus den großen Konzertsälen nicht mehr wegzudenken ist, sondern durch innovative Formate die komplette Chorszene verändert hat. Es ist eine wichtige Aufgabe, seine Arbeit auf höchstem Niveau fortzuführen.

Auf der anderen Seite ist da eine ganz große Freude, weil ich es einfach als großes Vergnügen empfinde, für dieses exzellente Ensemble und in dieser Stadt arbeiten zu dürfen, und das mit den tollen Partner*innen, mit denen wir kollaborieren. Es ist einfach eine große Ehre, diese Stelle anzutreten!

Du hast bereits im Bereich Marketing und Kommunikation beim Rundfunkchor Berlin gearbeitet und unter anderem die Einführung des derzeitigen Chefdirigenten Gijs Leenaars begleitet. Wie hast du die Arbeit beim Chor in Erinnerung?

Die Zeit hat mir natürlich geholfen, das Ensemble, die Sänger:innen, kennenzulernen, den Betrieb zu verstehen, vielleicht auch eine Sensibilität für diesen Bereich zu entwickeln, die besonderen Herausforderungen kennenzulernen, die ein Vokalensemble auch im Vergleich zu einem Orchester ans Management stellt. Außerdem habe ich aus der Zeit viele positive Erfahrungen mitgenommen, sonst würde ich nicht zurückkommen.

Dazu kommt: Die Konzerterlebnisse und gerade die eigenen Projekte haben eine wahnsinnige Dynamik, die man nur gemeinsam in einem starken Team realisieren kann. Diese Dynamik ist nicht selbstverständlich und ist einer der Punkte, warum ich sehr gerne zurückkehre: Weil mich dieser Drive und diese Energy interessieren und weil ich mich darauf freue, die wieder zu erleben!

Wie kann man sich die Aufgaben einer Chordirektorin eigentlich konkret vorstellen?

Die Aufgabe besteht hauptsächlich in der Gestaltung der Saison, die sich zu einem Großteil aus den Projekten mit den Orchestern zusammensetzt. Das bedeutet, die vielen Anfragen unter einen Hut zu bringen, den Zeitplan einzuhalten, die Proben zu planen, Einstudierer:innen anzufragen und mit den Orchestern die Verhandlungen zu führen.

Des Weiteren gilt es, das Programm der Eigenprojekte gemeinsam mit Gijs Leenaars zusammenzustellen, sich also Gedanken zu machen über so etwas wie: Was für ein Thema wollen wir nächste Saison in der Lounge haben, wen wünschen wir uns als Gast? Man kann hier, wie das mein Vorgänger ja wirklich beispielhaft gemacht hat, eigene Visionen und Projekte für die Zukunft andenken.

Ein großer Anteil ist deshalb auch das Netzwerken und Scouten von Ideen, von potenziellen Künstler*innen, mit denen man sich eine Zusammenarbeit wünscht oder von denen man Anregungen für die Gestaltung von Konzertformaten erhält. Den Chor im internationalen Geschäft zu positionieren, sei es im Bereich der Chorsinfonik oder mit eigenen Konzertveranstaltungen, also Einladungen zu Festivals und Veranstaltern auch außerhalb Deutschlands und Europas sind stets ein Ziel.

Darüber hinaus ist man natürlich auch verantwortlich für das Personal und für die Finanzen. Es gibt auch eine ganze Menge Verwaltungsarbeit.

Welche neuen Anregungen und Ideen bringst du mit?

Ich glaube, gewisse Dinge werde ich anders machen, weil ich einfach eine andere Person bin. Es gibt kleine Veränderungen, die sich jetzt schon abzeichnen. Zum Beispiel haben wir in der kommenden Saison den Ort für die Lounge gewechselt. Ich habe mich dafür stark gemacht, dass wir mit dem Format nach Neukölln gehen. Außerdem habe ich Boussa Thiam als Moderatorin gewonnen, die eine Vertreterin der jüngeren Mediengeneration ist. Und ich habe, weil sich dieses moderierte Format in lockerer Atmosphäre insbesondere an junge Leute richtet, ein Ticket für Schüler*innen und Studierende zum Preis von 15 Euro bereits im Vorverkauf eingeführt. Das sind Veränderungen, die sich ganz von selbst ergeben.

Ich bin außerdem der Meinung, dass die Klassikszene im Allgemeinen noch viel stärker werden kann in Fragen von Partizipation, von Diversität, von Repräsentation marginalisierter Gruppen. Das spielt einfach bisher noch keine ausreichend große Rolle. Nach meiner Wahrnehmung befinden wir uns in einer Umbruchphase, die ich äußerst spannend und wichtig finde. Wir sprechen seit den 80er-Jahren über Klimawandel, noch deutlich länger über Feminismus. Und dennoch ist bis heute viel zu wenig passiert. Irgendwie hat meine Generation, die Generation-Y, das einfach verschlafen, vielleicht weil unsere Eltern quasi ja schon politisch waren. Dass es jetzt eine junge Generation gibt, die den Finger wieder und stärker in die Wunde legt, finde ich gut und richtig. Und wir sollten ihr nicht nur gut zuhören, sondern auch dankbar sein, dass sie auf diese Themen aufmerksam macht und dafür kämpft. In 20 Jahren wird sie diejenige sein, die darüber entscheidet, welche Konzertformate es noch geben wird und was einfach ausstirbt, weil keiner kommt.

Diese Zielsetzung, mit unserer Kunst zugänglicher zu werden für alle Menschen, auch diejenigen, die aufgrund von Einkommen, Bildung, Herkunft, Behinderung, Sprache usw. bisher vom Konzertleben weitgehend ausgeschlossen sind, lasse ich in meine Arbeit einfließen.

Wie schafft man es, die Menschen in Zeiten eines überbordenden Unterhaltungsangebots zwischen Netflix, Spotify und Co. für die Kunstform Chormusik zu begeistern?

Ich glaube, dass Chormusik ein ganz großes Potenzial hat, Menschen zu begeistern, weil sie sich eines Mittels bedient, das jede:r kennt, nämlich der menschlichen Stimme. Eigentlich müsste das ja etwas sein, wo man grundsätzlich andocken kann. Denn jede:r hat ein Verhältnis zu menschlicher Stimme. Insofern glaube ich, dass Chormusik anders als andere Kunstformen vielleicht einen noch direkteren Zugang zu den Menschen hat. Man muss nur mit den Konzertformaten Wege finden, das Publikum überhaupt zu erreichen. Wenn die Leute erst mal da sind, sind sie begeistert!

Da stellen die Pandemie und ihre Folgen definitiv eine große Herausforderung an uns, das geht aber nicht nur uns so, das geht allen so. Inzwischen haben wir alle gemerkt, dass die Online-Formate nicht wirklich eine Live-Performance ersetzen können, und da, wo das während der Pandemie übermäßig gemacht wurde, gibt es, glaube ich, große Schwierigkeiten, jetzt die Rolle rückwärts zu schaffen und das Publikum zurückzuholen. Es wird eine Aufgabe für uns alle sein, die Leute von Netflix, von der Couch weg und zurück in den Konzertsaal zu holen. Aber wer, wenn nicht der Rundfunkchor Berlin sollte in der Lage sein, diesen Schritt durch innovative Konzertformate und eben vielleicht auch durch Veränderungen an der ein oder anderen Stellschraube für sein Publikum oder für ein neues Publikum wieder attraktiv zu machen.

Gibt es ein zukünftiges Projekt des Rundfunkchors, auf das du dich besonders freust?

In der kommenden Saison gibt es ganz viele Veranstaltungen, auf die ich mich sehr freue. Das würde hier den Rahmen sprengen, aber vielleicht nenne ich mal die drei:

Für das Weihnachtskonzert im Berliner Dom haben Gijs Leenaars und ich ein komplett ukrainisches Programm gewählt. Es ist eigentlich schade, dass der Krieg überhaupt erst der Anlass ist, sich mit der Frage zu beschäftigen, was es für Musik außerhalb des üblichen Kanons an Chorliteratur gibt, den wir immer und immer wieder in den Konzerten hören. Obwohl dieser Kanon mit Berechtigung diesen Platz einnimmt, weil es sich meist um sehr gute Musik handelt. Aber es war uns in der jetzigen Situation wichtig, mal ein bisschen über den Tellerrand hinauszugucken und zu schauen: Was gibt es eigentlich für Repertoire in anderen Kulturen, das für den Chor passend ist, aber noch nicht so oft gespielt und gehört wurde? Da haben wir ganz tolle Stücke von ukrainischen Komponist*innen gefunden, die wir in einer anderen Situation vielleicht gar nicht entdeckt hätten, und die unserem Publikum wertvolle Neuentdeckungen garantieren. Und wir glauben, dass im Dezember nach wie vor sehr viele Geflüchtete aus der Ukraine in Berlin leben werden, und auch für diese Menschen ein Weihnachtskonzert zu gestalten, fanden wir einen guten Ansatz.

Das Projekt mit dem Staatsballett wird sicher eines werden, an das man sich auch nach Jahren noch gern erinnern wird: Das Verdi-Requiem, szenisch und choreografiert mit Tänzer*innen vom Staatsballett auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin, ist etwas sehr besonderes. Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit einer fantastischen Tanzkompanie und einem hervorragenden Orchester. Und das Verdi-Requiem ist eines unserer Leib- und Magenstücke, das dem Chor sehr gut liegt. Für mich ist dieses Projekt auch eine Art heimkehren. Ich habe selber als Jugendliche im Kinderchor der Deutschen Oper gesungen und hatte dort meine erste (und übrigens auch letzte) Bühnenerfahrung. Deshalb hänge ich an diesem Ort und an seinen Gängen und Räumen, die ich noch aus meiner Kindheit kenne.

Unter den vielen, wirklich exzellenten Programmen, die wir mit den Orchestern machen, bin ich sehr gespannt auf „The Wreckers“ unter Robin Ticciati mit dem Deutschen Symphonie-Orchester. Denn das ist die Oper einer Komponistin, die fast nie gespielt wird, obwohl es sich um ganz tolle Musik handelt, bei der der Chor ordentlich gefordert ist. Auch hier geht es wieder darum, ungehörtes Repertoire in die Konzertsäle zu holen und sich nicht auf dem auszuruhen, was wir bereits gut kennen.

Du bist in Berlin geboren und aufgewachsen. Nach Schätzungen gibt es ca. 1500 Chöre in der Hauptstadt. Was ist das Erfolgsgeheimnis des Rundfunkchors?

Der Rundfunkchor steht für Exzellenz und Präzision und hat gleichzeitig eine ganz große Seele. Was ich an dem Chor unheimlich mag, ist dieser sehr warme und weiche Klang, an dem man ihn auch im Radio meist sofort wiedererkennt.

Darüber hinaus ist er eines der wenigen Ensembles, die den Spagat schaffen zwischen Präzision und dem Mut, neue Wege zu gehen. Von Chorsinfonik über A-cappella- und Education- sowie Community-Projekte, bis hin zu interdisziplinären Formaten: Der Rundfunkchor Berlin kann all diese verschiedenen Facetten abbilden, ohne, dass die Qualität leidet. Denn er arbeitet immer mit einem äußerst hohen Anspruch. Das fordert den Sänger*innen sehr viel Professionalität, Disziplin und Flexibilität ab, was eben eigentlich nur ein Profichor leisten kann.

Eine letzte Frage: Was für Musik hörst du privat?

Leider habe ich nicht viel Zeit, Musik aus der Konserve zu hören. Wenn, dann nehme ich sie mir, um mich weiterzubilden, weil ich etwas recherchiere, weil ich auf der Suche nach neuen Kompositionen bin. So wie kürzlich geschehen, als Gijs Leenaars und ich uns für das Programm vom Weihnachtskonzert mit ukrainischen Kompositionen auseinandergesetzt haben.

Wenn ich mit Freund*innen zusammen bin und in Erinnerungen schwelgen will, höre ich deutschen Hiphop der 90er. Außerdem habe ich in den letzten Jahren, vor allem auf Reisen, sehr viele Kinderlieder gehört. Richtig empfehlenswert sind die Aufnahmen des NDR-Kinderchores aus den 60er-Jahren. Dabei handelt es sich um einen gemischten Kinderchor, der fantastische Aufzeichnungen von Kinder- und Volksliedern gemacht hat. Nicht aus unserer Familie wegzudenken sind außerdem die Kinderlieder aus dem Grips!-Theater aus den 80er-Jahren, die heute wieder aktueller sind denn je. Bei diesen Stücken geht es um den Klimawandel, um Klassismus und um Genderfragen sowieso. Das sind so tolle Lieder, die ich die letzten Jahre mit meinen Kindern gehört habe und als absolute Horizont-Erweiterung empfinde.

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