»THE WORLD TO COME«

THE WORLD TO COME – Die Künstler*innen

BIRKE J. BERTELSMEIER

»Wir kennen die Welt nicht, die kommen wird. Alles ist offen, vieles ist formbar, anderes unveränderbar. Manches werden wir noch erleben, das meiste aber nicht, und eigentlich könnte es uns ja – einmal ganz egoistisch gedacht – herzlich egal sein. Doch die Welt ist uns nicht egal. Es macht einen Unterschied, wie wir sie durchschreiten und uns die kommende Welt in der gegenwärtigen ausmalen und vorstellen. Vielleicht versuchen wir also, positiv nach vorn zu schauen. Beginnen wir mit einem »Gloria«, jenem Hymnus, der stets eher ein Gesang der Gemeinde war als einer von besonderen Sänger*innen – und bleiben daran hängen, bis er ins Absurde abgleitet. Nach diesem »Gloria« folgen versteckt die anderen Sätze von Beethovens Messe. Und so wie Gott traditionell in der Messe vergegenwärtigt wird, so ist auch Beethovens »Missa solemnis« in THE WORLD TO COME untergründig stets präsent.«


Birke J. Bertelsmeier zählt zu den namhaftesten Komponistinnen der jüngeren Generation. Sie studierte Komposition bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe und Manfred Trojahn in Düsseldorf sowie Klavier an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Darüber hinaus erhielt die Preisträgerin zahlreicher Kompositionswettbewerbe und mehrfache Stipendiatin verschiedener Stiftungen Unterricht bei Komponist*innen wie Brian Ferneyhough, Marco Stroppa, Beat Furrer, Hanspeter Kyburz, Olga Neuwirth oder Adriana Hölszky.
Birke J. Bertelsmeiers Arbeit umfasst Oratorien, Opernprojekte, Solo- und Orchesterwerke und Kammermusik. 2018 entstand im Auftrag des Ultraschall-Festivals das Quintett »Al di là«. Gemeinsam mit Tilman Hecker hat sie an der Tischlerei der Deutschen Oper »Querelle« realisiert. Sie verbindet eine Zusammenarbeit mit den Bamberger Symphonikern, Mitgliedern der Berliner Philharmoniker, dem Ensemble Modern und dem Ensemble der Deutschen Oper Berlin.
Neben ihrem eigenen Beitrag zeichnet Birke J. Bertelsmeier bei THE WORLD TO COME für die gesamte Partitur verantwortlich.

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MOHAMMAD REZA MORTAZAVI

»Die »Missa solemnis« ist ein emotional gewaltiges Stück. Es hat heftige, dunkle Phasen und Momente der Befreiung. Ich habe am »Credo« angesetzt. Beim Mitspielen auf Tombak und Daf fiel mir auf, dass ich zwar mit demselben Gefühl spiele und mich mit dem Stück emotional stark verbunden fühle, dabei aber ganz andere Akzente setze. Ich habe daher begonnen, Rhythmus und Akzentuierungen zu verschieben, die Harmonien des Stücks aber im Grunde so gelassen, wie sie sind. Im Gesamten entsteht so eine neue Atmosphäre. Denn ändert man einen Teil, dann ändert man zwangsläufig das ganze Gefüge. Man muss mitgehen mit dem, was passiert, und daran glauben, was man macht. Denn wahrer Glaube hat nichts mit Religion zu tun, nichts mit Angst. Wahrer Glaube ist Vertrauen.«


Mohammad Reza Mortazavi ist 1979 in Isfahan, zwei Monate nach der Revolution im Iran, geboren. Seit 19 Jahren lebt er als Musiker und Komponist in Deutschland. Er begann mit sechs Jahren die Tombak und mit 14 die Daf zu spielen. Als Jugendlicher spielte er oft in Orchestern und gewann sechsmal in Folge den nationalen Tombak-Wettbewerb in Teheran. Er war fasziniert von den facettenreichen Klängen beider Instrumente und überschritt ihre üblichen Spielweisen. Das Publikum war von seinen musikalischen Ideen begeistert. Aufgrund dieser Resonanz entschloss er sich ein Tombak-Solo-Konzert mit eigenen Kompositionen in Teheran zu spielen. Trotz der erhaltenen Auszeichnungen wurde sein Antrag vom konservativen Beamten für lächerlich befunden und abgelehnt: Solo-Performances für Tombak seien nur den alten Meistern vorbestimmt - so die Begründung. Schließlich entschied er sich Ende 2001 nach München zu ziehen und seinem bisherigen Erfolg als Musiker im Iran den Rücken zuzukehren.
Um auf eine universale Dimension von Musik hinzuweisen, zu der an sich jede und jeder emotional Bezug finden kann, betont er immer wieder, dass er sich nicht als Schöpfer von Musik versteht, sondern diese durch ihn durch geht. Findet Musik eine klare Ausdrucksform, wirkt sie für ihn wie ein Kreisel, welcher im Moment höchster Schnelligkeit in einen Ruhezustand mündet. Seine Spieltechniken erscheinen hierbei wie klangliche Spiegel der Fantasie. Aus heutiger Sicht beschreibt Mortazavi die Balancefindung zwischen Konzentration und Loslassen als das Kernelement seines musikalischen Schaffens: eine sich beständig verändernde Bewegung, in der sich die Grenzen von Körper und Geist ineinander auflösen. Darin äußert sich schließlich eine neue und freie Musik als philosophische Position, welche bewusst oder unbewusst wahrgenommen wird.
Bei THE WORLD TO COME hat Mohammad Reza Mortazavi für das Arrangement mit Lea Fink zusammengearbeitet.

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MOOR MOTHER

»Wichtig ist für mich die Analyse dessen, was als Geschichte anerkannt ist und was wir als historische Klänge wahrnehmen. Ich bin nicht notwendigerweise ein Beethoven-Fan, eher schon eine Forscherin, die sich mit den Geschichten und den historischen Säulen des Klangs auseinandersetzt, um das Gespräch zu erweitern. Ich möchte diese Geschichten sezieren. Und diese Säulen umstürzen.«


Moor Mother (Camae Ayewa) ist Musikerin, Poetin, bildende Künstlerin und Aktivistin. 2016 erschien ihr Debütalbum »Fetish Bones« bei Don Giovanni Records. Magazine wie The Wire, Jazz Right Now und Rolling Stone lobten das Album als eines der besten des Jahres. Kurze Zeit später folgte mit »The Motionless Present« ihr zweites, sowie Ende 2019 mit »Analog Fluids of Sonic Black Holes« ihr drittes Album.
In den vergangenen Jahren war Moor Mother auf zahlreichen Festivals, in Museen, Galerien und an Universitäten zu Gast. Sie stand mit Theoretiker*innen, Autor*innen und Künstler*innen wie bell hooks, Roscoe Mitchell, King Britt und Claudia Rankine auf der Bühne. Mit dem legendären Art Ensemble of Chicago verbindet sie eine Arbeitsbeziehung. Sie ist regelmäßig in Kollaborationen aktiv – ihre aktuellste Veröffentlichung entstand etwa gemeinsam mit der Flötistin und Komponistin Nicole Mitchell. Zudem ist sie Teil der Projekte Irreversible Entanglements, Moor Jewelry und 700 Bliss. Mit der Künstlerin, Aktivistin und Schriftstellerin Rasheedah Phillips bildet sie das multidisziplinäre Kollektiv Black Quantum Futurism, das auf der Grundlage des Afrofuturismus an neuen Zeitmodellen arbeitet.

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PLANNINGTOROCK

»»Kein Geheimnis sei dein Nichthören mehr – auch bei der Kunst.« Beethoven war ein Künstler mit Behinderung und diese brillante Notiz fand man auf einer seiner Kompositionen. Meine Schwester Beulah ist Autistin und auch wenn sie keine Komponistin ist, so spielte und spielt Musik in ihrem Leben – insbesondere als Person mit Behinderung – eine wichtige Rolle. Ich fand es faszinierend, mehr darüber zu erfahren, wie Beethoven mit seiner Taubheit umgegangen ist und wie er sie in seiner Musik verarbeitet hat. »I hear you«, eines der Stücke, die ich für THE WORLD TO COME geschrieben habe, ist eine Hommage an die Kraft der Musik, uns ein Leben und eine musikalische Heimat zu geben – jenseits unserer Körper, jenseits unseres sozialen Umfelds.«


Seit ihrem Debütalbum »Have It All« im Jahr 2006 kreieren Planningtorock (Jam Rostron), die sich als nicht-binär identifizieren, queere Pop- und Clubmusik, die sich durch eine explizite politische Haltung und eindeutige Botschaften auszeichnet. Songs wie »Patriarchy Over & Out« oder »Let’s Talk About Gender Baby« verdichten Fragen der Geschlechterpolitik zu prägnanten und aussagekräftigen Slogans.
Auf ihren inzwischen vier Studioalben – auf »Have It All« folgten »W« (2011), »All Love’s Legal« (2013) und »Powerhouse« (2018) – verbinden Planningtorock rhythmische Elemente der Clubmusik mit elegischen Synthesizern, klassischen Elementen und eingängigen Pop-Melodien. Zu ihren Studioalben kommen zahlreiche Kollaborationen mit anderen Künstler*innen sowie Musik für Filme, Opern oder Modenschauen etwa für Chanel.

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COLIN SELF

»Die Auseinandersetzung mit der »Missa solemnis« war für mich wie eine Wanderung durch einen fremden Wald. Nach einer Weile begriff ich, dass eine Möglichkeit, an dieses Werk anzuschließen, in der »Dekomposition« der Kompositionen lag, darin, sie zu loopen, bis sie mutieren – und dabei Themen einzubringen, die die Festmesse selbst ausspart. So begann ich, Polari zu verwenden, einen queeren Soziolekt aus Großbritannien, der sich als Nonsens tarnt: »Deary gajo, do a turn on the nanna catever days! Sharda the charpering omee, we bona barney, nada dally, give a ferricadooza!« Ich glaube, wir sollten die Sprache kriminalisierter Queers dazu benutzen, die biblische Rhethorik zu ersetzen. Und wir sollten Albernheit, Unordnung und Wildheit den Vorzug geben vor der symbolischen kanonischen Sprache der »Missa solemnis«. In der Ekstase lassen sich das Erbe und die Eigenschaften von Beethovens Musik verändern – in Richtung einer Welt, die all jene Ikonen des katholischen Heteropatriarchats vergessen haben wird. Vielleicht kann Beethoven dabei ja als eine Art Mulch dienen – und zum Nährboden für die kommende Welt werden (wenn wir das Glück haben, sie erleben zu dürfen!).«


Colin Self ist Künstler, Komponist und Choreograph und lebt und arbeitet in New York und Berlin. Er entwickelt Musik und Performances die sowohl bestehende Binaritäten hinterfragen als auch mit den Grenzen der Wahrnehmung spielen. Self arbeitet mit einer großen Zahl an Kollektiven und Künstler*innen zusammen und nutzt Stimmen, Körper und Computer als Werkzeuge um eine Schnittstelle zwischen Biologie und Technik zu gestalten.
Self ist Dozent am Berliner Clive Davis Institut der New York University. Seine Arbeiten wurden bislang unter anderem an der Niederländischen Nationaloper, dem HAU Berlin, The New Museum, The Kitchen NYC, dem Issue Project Room und weiteren internationalen Festivals und Institutionen gezeigt. Er ist Mitbegründer des Queer-Kollektivs Chez Deep sowie von The Radical Diva Grant. Colin Self verbindet darüber hinaus eine enge Zusammenarbeit mit Holly Herndon. Seit 2015 tritt er regelmäßig mit ihrem Ensemble auf. Er leitet den internationalen, nicht-utilitaristischen Chor XOIR, der sich mit alternativen Möglichkeiten von Gruppengesang beschäftigt und veröffentlicht Solo-Musik auf RVNG Intl.
Bei THE WORLD TO COME hat Colin Self für das Arrangement mit Justin Wong zusammengearbeitet.

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Termine
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