von Elisabeth Kühne
Manchmal scheint sie zu rennen, manchmal stehen zu bleiben – und doch können wir sie nicht festhalten, weder beschleunigen noch zurückdrehen: Kaum ein Wesen, kaum ein Zustand wirkt auf uns rätselhafter und mythischer als die Zeit. Seit Anbeginn der Menschheit versuchten die großen Denker und Dichter sie zu fassen. Von Heraklit über Isaac Newton bis hin zu Martin Heidegger sind uns die verschiedensten Vorstellungen von der Zeit überliefert, und so könnte man den Eindruck gewinnen, es gäbe mehr als eine Zeitdimension. Tatsächlich kannten schon die alten Griechen zwei Arten von Zeit, nannten die menschengemachte »Chronos« und unterschieden sie von der natürlichen Zeit. Denn während der Wandel der Tages- und Jahreszeiten, der Natur und des Lebens zyklisch verläuft, ist die messbare Zeit des »Chronos«, unserer Uhren und Kalender, linear und führt uns in eine unbekannte Zukunft. Bei allen Ideen zur Zeit steht jedoch eines fest: Wir Menschen sind Zeitreisende, bewegen uns fließend zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir schauen zurück auf unser bisheriges Leben mit all seinen Freuden und Leiden, seinen gewundenen Pfaden und Abzweigungen, wir geben uns dem Augenblick hin, möchten ihm mit Goethe sagen: »Verweile doch! Du bist so schön!«, und blicken zugleich einer ungewissen Zukunft entgegen, mal hoffnungsvoll, mal angsterfüllt.
Mit seinem interdisziplinären Projekt »Time Travellers« begibt sich der Rundfunkchor Berlin auf ebenjene menschliche Zeitreise, die unser aller Leben prägt. Im musikalischen Zentrum des Abends steht der Liedzyklus »The Passing of the Year« des britischen Komponisten Jonathan Dove. Als eine der profiliertesten Stimmen der zeitgenössischen Musik schuf Dove neben zahlreichen Opern und Instrumentalkompositionen auch einige liturgische sowie weltliche Chorwerke voller Charisma und Intensität. Der vom London Symphony Chorus im Jahr 2000 in Auftrag gegebene und seiner früh verstorbenen Mutter gewidmete Liedzyklus »The Passing of the Year« für zwei Chöre und Klavier kreist vordergründig um das Werden und Vergehen der Jahreszeiten. In sieben Sätzen über Gedichte von William Blake, Emily Dickinson, George Peele, Thomas Nashe und Alfred Lord Tennyson beschreibt Dove den Jahreslauf vom Aufblühen des Frühlings und der sich belebenden Natur über die triumphale Ankunft des Sommers mit all seiner Schönheit und schwülen Hitze bis hin zum herbstlichen Gefühl der Sterblichkeit und schließlich zur winterlichen Silvesternacht, in der das neue Jahr eingeläutet wird. Beim genaueren Hinhören offenbart sich jedoch rasch eine zweite, tiefere Ebene der Komposition: Nicht nur der Wandel der Jahreszeiten wird hier besungen, es ist das Leben selbst in all seinen Facetten, mit seinen allumfassenden Erfahrungen von Liebe und Lust, von Trauer und Tod, das hier verhandelt wird.
So beginnt der Zyklus auch mit der »Invocation« über William Blakes Vers »O Earth, return!« (»Oh Erde, kehre zurück!«), einer Beschwörung der Natur und des Lebens, auf deren Erwachen sehnsüchtig gewartet wird. Der pulsierende Klavierpart, der das Stück eröffnet, und die polyrhythmisch oszillierenden Chorstimmen geben einen Eindruck jener inneren Vorgänge der Erde, die den Frühling entfesseln, eine »Idee von keimenden Samen unter der Oberfläche«, wie Dove es selbst beschrieb, »von etwas, das mit dem Leben schwanger ist, das noch nicht freigesetzt wurde«. Im zweiten Satz scheint der Ruf an die Erde erhört worden zu sein: »The Narrow Bud Opens Her Beauties to the Sun« (»Die zarte Knospe eröffnet ihre Schönheit der Sonne«) feiert die Wiedergeburt des blühenden Frühlings und des nahenden Sommers, der Jugend und der Liebe. Dabei verwebt Dove nicht nur die Jahreszeiten miteinander, sondern auch geschickt die Verse aus William Blakes Gedicht »To Autumn«, angelegt als responsorischen Wechselgesang zwischen Solist und Chor, mit dem mittelalterlichen Kanon »Sumer is Icumen in« (»Der Sommer ist gekommen«) und erschafft so eine Art Quodlibet. An dieser Stelle wird Doves Liedzyklus erstmals aufgebrochen: Quasi als Gegenstück zum lichtdurchfluteten zweiten Satz erklingt Johannes Brahmsʼ vierstimmiger Chor »O schöne Nacht«. Schon die ersten Takte der Klavierbegleitung erschaffen eine lyrische Szenerie, in der die hohen Töne wie Sterne am Nachthimmel funkeln. Mondbeschienen und vom Gesang der Nachtigall begleitet, die trillernd im Klavierpart schlägt, komponierte Brahms 1889 als Auftakt seiner Quartette op. 92 ein nächtliches Liebesabenteuer. Der dritte Satz aus »The Passing of the Year« vertont Emily Dickinsons Gedicht »Answer July« (»Gib Antwort, Juli«). Im raschen Wechselgesang der Stimmen entspinnt sich darin ein lebhaftes Frage-Antwort-Spiel zwischen den Jahreszeiten, das deren zyklische Verbundenheit im Kreislauf allen Lebens betont. Als eine Art flirrendes Echo dazu folgt darauf der dritte Satz »Mouvement« aus Claude Debussys erstem Band seiner impressionistisch gefärbten »Images«. Wie ein wogender Organismus baut sich das virtuose Klavierstück aus einem energetischen, wirbelnden Ostinato auf. Ganz seinem Titel entsprechend werden hier unterschiedliche Bewegungsvorgänge musikalisch in Szene gesetzt. Schnelle Triolen umkreisen wie in einem Perpetuum mobile offene Quinten und bringen ein prägnantes Glockenmotiv hervor. Nach einer dramatischen Steigerung kehrt schließlich das sich immer stärker in die Höhe schraubende Ausgangsthema wieder, welches nach und nach verklingt – die überbordende Bewegungsenergie kommt langsam zum Stillstand. Vibrierende Reglosigkeit prägt dann auch Doves »Hot Sun, Cool Fire« (»Heiße Sonne, kühles Feuer«), das mit den Versen George Peeles ein sommerlich-erotisches Szenario zwischen einer Frau und ihrem voyeuristischen Verehrer zeichnet. Schon die Tempobezeichnung »Languorous«, das schimmernde Tremolo des Klaviers und die spannungsgeladene Sekundreibung zwischen den Frauenstimmen skizzieren die brütende Hitze des Sommers und das glühend-fiebrige Begehren des Beobachters. Mit dem ersten Teil von »Nachklänge«, einem A-cappella-Werk für vier Chöre des niederländischen Komponisten Robert Heppener aus dem Jahr 1977, wird dem Zyklus Doves erneut ein musikalisches Gegenstück zur Seite gestellt. Komponiert auf die ersten Verse aus Paul Celans Poem »Stimmen«, das 1959 in seinem Gedichtband »Sprachgitter« erschien, lotet es die Grenzen von Klang und Sprache, von Zeit und Raum aus. Die aus dem Nichts entstehenden Vokalisen scheinen zu verschwimmen, gleiten ineinander, nur unterbrochen durch konsonantische Sprachfetzen, die im Laufe der Komposition immer dichter und geräuschhafter werden. Tief ergreifend setzt Heppener so die undurchdringliche Rätselhaftigkeit der Dichtung Celans in Musik, die sich zwischen Sprechen und Schweigen, zwischen Wort und Wunde bewegt. In herbstliche Sehnsucht getaucht präsentiert sich Doves »Ah, Sun-flower« (»Ach, Sonnenblume«), komponiert auf ein Gedicht William Blakes aus seinen »Songs of Experience«. Wie sich die Sonnenblume darin täglich nach der Sonne ausrichtet, ohne sie jemals zu erreichen, ist auch das Leben geprägt von der Suche nach so manchen utopischen Sehnsuchtsorten. Aus der sanften Melodie der Tenöre und Bässe im wiegenden Dreivierteltakt entspinnt ein achtstimmiger Kanon, der schließlich in einen Doppelkanon zwischen Frauen- und Männerstimmen mündet – fast wirkt es, als würden sich Sonne und Sonnenblume in diesem zweifachen Kanon gegenseitig anziehen. »Sehnsucht« ist auch der Titel des folgenden Chores von Johannes Brahms. In melancholischem Tonfall mit expressiver Harmonik erweist sich die Komposition als nachdenkliches Stück über die Zeit, die changierend zwischen dem Gestern und dem Morgen zerrinnt. Von tiefstem Weltschmerz und höchster emotionaler Intensität ist John Dowlands Lied »Flow My Tears« (»Fließt, meine Tränen«) aus seinem »Second Booke of Songs or Ayres«. Die ursprünglich 1596 als Lautenlied komponierte Pavane wird bestimmt vom musikalischen Motiv der fallenden Träne, das auf die Eingangsworte erklingt, und gehört mit seiner verschatteten Melodik und unversöhnlichen Trauer zu den sogenannten »Songs of darkness« der Elisabethanischen Ära. Die Vergänglichkeit alles Irdischen schlägt auch die Brücke zu Doves sechstem Satz »Adieu! Farewell Earth’s Bliss« (»Adieu! Leb wohl, Glückseligkeit der Erde«), der Verse aus Thomas Nashes Theaterstück »Summer’s Last Will and Testament« aus dem Pestjahr 1592 vertont. Poetische Bilder der Endlichkeit allen Lebens und des Todes übersetzt Dove in einen bewegenden Trauermarsch, wobei die beiden Chöre alternierend zu den Strophen gebetsartig das Ostinato »Lord have mercy on us« (»Herr, erbarme dich unser«) deklamieren – der Tod ist unausweichlich, das Alte muss vergehen, bevor das Neue erblühen kann. Und so finden die vier Chöre im zweiten Teil von Robert Heppeners »Nachklänge« auch nur zaghaft neue Worte. Aus der Sprachlosigkeit des ersten Teils entspinnen sich fragmentiert die Verse Paul Celans, in fluiden Vokalisen reichen sich die verschiedenen Stimmen die Worte gegenseitig zu und treten, wie Celan dichtet, transformierend ein »in ein anderes Bild«. Geradezu entrückend wirkt auch Claude Debussys »Et la lune descend sur le temple qui fut« (»Und der Mond senkt sich über den vergangenen Tempel«) aus dem zweiten Band seiner »Images« für Klavier solo. Eingetaucht in die fernöstliche Atmosphäre einer vom bleichen Mond beschienenen Tempelruine dringt das Stück mit seiner Pentatonik ein in Welten des räumlichen und zeitlichen Fernwehs – ein fremdes Traumbild voller Ahnungen und Visionen. »Ring Out, Wild Bells« (»Läutet aus, ihr wilden Glocken«), komponiert nach einem Text von Alfred Lord Tennyson, beschließt nicht nur Doves Liederzyklus »The Passing of the Year«, sondern bildet auch das emphatisch-verheißungsvolle Finale der Zeitreise. Schließlich wird hier musikalisch inspiriert vom rhythmisch bewegten Geläut der Glocken zu Silvester nicht nur der Jahreswechsel begangen, sondern metaphorisch auch ein neues Zeitalter eingeläutet. Eine Zeit des Schmerzes und der Leiden, der Falschheit und der Gier neigt sich ihrem Ende zu, und von Neuem erstehen vor dem Angesicht der Menschheit Wahrheit, Glück und Frieden.