Requiem aeternam dona eis – schenke ihnen ewige Ruhe. Genau darum wird gebeten in der Totenmesse, dem Requiem. Ewige Ruhe als ersehntes Geschenk, denn nicht weniger, so stellen wir uns in diesem Leben vor, könnte man sich nach einem turbulenten, lauten, ja beinahe ohrenbetäubenden Leben wünschen für seine ganz persönliche Ewigkeit. Sprache, auf welche Art auch immer, begleitet uns Zeit unseres Lebens: ständiges Aushandeln, Kommunizieren, Schreien, Flüstern, Nach-Worten-Suchen. Die erhoffte Ruhe, innen wie außen, erscheint als paradiesischer Zustand. Und dieser scheint einzutreten, sobald die Schwelle vom Leben zum Tod überschritten ist. Mit einem Mal – Ruhe.
Beginnt der Tod dort, wo die Sprache aufhört? Andersherum betrachtet scheint das in den meisten Gesellschaften zuzutreffen: Die Worte der Lebenden versiegen, sobald es um das Sterben und den Tod geht. Er wird meist ausgeklammert aus dem Leben, solange wir nicht gezwungen sind, uns mit ihm zu beschäftigen, und stellt ein Tabu dar, eines der letzten Themen, zu denen wir lieber schweigen. Ewige Ruhe. Ist es das, was uns erwartet, ein Ort der Ruhe und Stille? Eine weite, leere Wüste, in der Sprache und Verständigung nicht mehr existieren, wie in Ingeborg Bachmanns Kurzgeschichte Die Karawane und die Auferstehung? Oder vielmehr eine riesige Halle, der eines Busbahnhofs ähnlich, in der es vor verstorbenen Wesen, Menschen wie Tieren, nur so wimmelt und Durchsagen aus Lautsprechern scheppern, die an die pünktliche Abfahrt ins persönliche Paradies erinnern, wie Holly im Himmel es erlebt?
Denn was aber, wenn die Sterbenden – die Toten gar – (noch) nicht ruhig sein wollen, wenn ihre Sprache, anders als unsere eigene, eben nicht dort aufhört, wo der Tod eintritt?
Was, wenn sie erzählen wollten von dem, was es bedeutet, jene Schwelle zu passieren, berichten könnten, was ganz konkret noch wahrgenommen werden kann im Diesseits und im Jenseits? Erst circa zehn Minuten nach dem Stillstand des Herzens setze der Tod des Gehirns ein, so bestätigen Studien mittlerweile, einige andere gehen sogar von Stunden aus. Diese neun Minuten und achtunddreißig Sekunden nach Eintreten des Todes sind es, die durch Elif Şafaks Roman Unerhörte Stimmen leiten. Beginnend mit dem Ende, dem Tod der Protagonistin Tequila Leila: einer Prostituierten, die brutal ermordet und dann in einen Müllcontainer geworfen wurde. Sie ist tot und zugleich überaus wach, sie möchte rufen, doch hat sie keine Stimme, gehörte schon als Lebende zu jenen, die am Rande der Gesellschaft stehen, den Ausgestoßenen, die ungehört bleiben. Sie nimmt uns mit durch ihr Leben, das an ihr vorüberzieht in diesen letzten Minuten, in diesem wachen Zustand zwischen Leben und Tod, deren Grenze sie als »porös wie Sandstein« beschreibt. Denn »alle dachten, Leichen wären leblos wie gefällte Bäume oder hohle Stümpfe, ohne Bewusstsein. Hätte man ihr die Gelegenheit gegeben, hätte Leila bezeugt, dass Leichen ganz im Gegenteil nur so strotzten vor Leben.«
In dieser porösen Zone, dem Leben an seiner Grenze zur Auslöschung, bewegt sich auch Anne Boyer in ihrem Roman Die Unsterblichen, oder vielmehr »Die Unsterbenden« (The
Undying), wie es im englischen Original heißt. Erkrankt an einer aggressiven Form von Brustkrebs findet sie eine Sprache für die unsagbare Erfahrung des Krankseins mit potenziell tödlichem Ausgang, die zugleich poetisch und zugänglich ist. Sie zeigt unter anderem auf, wie sie sich den vermeintlich vergehenden Körper, die »absterbenden Zellen zu Waffen [macht] gegen das, was du hasst und was dich hasst«. Statt den Körper als den Störfaktor zu sehen, der einen ins Sterben, ins Verderben reißt, nimmt Anne Boyer sich diesen sterbenden Körper zurück, macht ihn zur Waffe, in ihrer Sprache, in ihrer Poesie, vereinigt sich mit ihm, um sich zu rüsten gegen die drohende Sprachlosigkeit, die mit Tod und Krankheit einhergeht.
Mit dieser womöglich nahenden Stille geht auch die Denkerin, Dichterin und Malerin Etel Adnan um in ihren Miniaturen Die Stille verschieben, die sie wenige Monate vor ihrem Tod verfasste. Mit dem Bewusstsein, dass dieses Buch ihr letztes sein würde, reflektiert sie darin ihr Leben und ihr Altern im ständigen Wechselspiel mit dem äußeren Weltgeschehen. Sie bereitet sich auf das voranschreitende Verlöschen der Sprache vor, indem sie in ihren Worten ihr eigenes Sterben vorwegnimmt. »Das Universum macht ein Geräusch – ist ein Geräusch. Im Herzen dieses Geräuschs gibt es eine Stille, eine Stille, die dieses Geräusch erzeugt, das nicht ihr Gegenteil ist, sondern ihre untrennbare Seele. Und diese Stille kann man auch hören. Diese Stille ist die Vorbereitung auf das, was kommt, steht aber nicht frei.«
In Musik und Literatur einen Ausdruck finden für das, wohin die Sprache im Alltag nicht zu reichen scheint: Dieser Abend wagt den Versuch und will ermutigen, das Schweigen
über den Tod und das Sterben aufzubrechen. Ewige Ruhe? Später vielleicht.
Angelika Schmidt