Interviews
Auf ein Wort mit David Stingl
Die Corona-Pandemie stellt die Musikszene aktuell vor eine große Herausforderung. Auch beim Rundfunkchor Berlin musste der Konzert- und Probenbetrieb in den vergangenen zwei Monaten vorübergehend eingestellt werden. Hinter den Kulissen war der Chor in dieser Zeit jedoch keinesfalls untätig. Im Interview spricht der Bassist David Stingl unter anderem über digitale Musikformate und die von Chormitgliedern initiierte Spendenaktion für ihre Aushilfen. Zudem gibt er einen Einblick in seine Arbeit im Betriebsrat und die Pläne für die Chorarbeit in den kommenden Wochen.
Die aktuelle Situation macht das direkte Zusammenarbeiten, Proben und Musizieren gerade unmöglich. Hinter den Kulissen wird jedoch Vieles bewegt. Du bist unter anderem in der Gewerkschaft und im Betriebsrat vertreten. Woran wird dort aktuell gearbeitet?
Im Betriebsrat haben wir aktuell zwei Schwerpunkte: Einmal verhandeln wir im Moment, in ständiger Absprache mit der Gewerkschaft, eine Kurzarbeitsregelung für die Klangkörpermitglieder, die in den letzten Wochen erstmal gar nicht und dann relativ wenig gearbeitet haben. Außerdem arbeiten wir gemeinsam mit der Geschäftsführung an einem Hygieneplan, also den Bedingungen, unter welchen in Zukunft wieder Proben, Aufnahmen, Streaming-Formate und eventuell auch wieder Konzerte in kleinerem Rahmen stattfinden können.
Kannst Du uns schon verraten, wie es da weitergeht?
Der Hygieneplan ist fertig und abgesegnet, sodass wir diese Woche die Probenarbeit wieder aufnehmen können, wenn auch natürlich unter besonderen Bedingungen. Die Regeln sehen vor, dass wir drei Meter Abstand zueinander einhalten, und der Probenraum muss so groß sein, dass pro Person 20m² zur Verfügung stehen. Das macht es im Moment schwierig, überhaupt einen Raum zu finden, in dem möglichst viele Chormitglieder gleichzeitig proben können.
Bis zum Ende der Spielzeit haben wir auch schon wieder zwei Projekte geplant: Zum einen wird unser SING!-Projekt zusammen mit den beteiligten Schulen und SING!-Chören in einer abgespeckten Version digital weitergeführt. Zum anderen soll auch die dritte RundfunkchorLounge der Saison stattfinden; zwar ohne Publikum, aber dafür mit Live-Übertragung übers Radio. Ob die neue Saison dann wie geplant starten kann, ist noch unklar. Da muss man nach wie vor die Infektionszahlen beobachten und neue wissenschaftliche Ergebnisse abwarten, besonders auch zur Ansteckungsgefahr in Konzertsituationen. Ich bin optimistisch, dass sich da in den kommenden Wochen Vieles tun wird.
Viele Künstler finden aktuell kreative (digitale) Lösungen, um das Publikum weiter an ihrer Musik teilhaben zu lassen. Der Rundfunkchor Berlin hat beispielsweise kürzlich gemeinsam mit INTERKULTUR das Sing Along Concert ONLINE auf die Beine gestellt und an einem Radiokonzert mit den anderen ROC-Ensembles mitgewirkt. Wie stehst Du zu solchen Formaten?
Grundsätzlich stehe ich digitalen Formaten sehr aufgeschlossen gegenüber. Natürlich können sie ein Live-Erlebnis nie ersetzen, sind aber eine gute Ergänzung dazu, auch schon vor der Pandemie. Die Digital Concert Hall ist z.B. ein sehr bekanntes digitales Format, das fest etabliert ist und in hoher Qualität Aufzeichnungen von Konzerten der Berliner Philharmoniker anbietet, auch die gemeinsamen Konzerte mit uns. In Corona-Zeiten gibt es aktuell viele herausragende Angebote, z.B. von dem Pianisten Igor Levit, der über 50 Livestream-Konzerte gespielt hat. Auch wir vom Rundfunkchor Berlin waren nicht untätig. Vor einigen Wochen habe ich z.B. Bachs Choralvorspiel »O Mensch, bewein dein Sünde groß« für Solisten und Chor transkribiert und ein Video zusammengeschnitten, auf dem viele unserer Sänger das Stück »gemeinsam« vortragen.
Das Problem mit den digitalen Angeboten besteht allerdings darin, dass in letzter Zeit alle Musikveranstaltungen auf diese Ebene beschränkt waren. Nun existiert eine solche Fülle an unterschiedlichen digitalen Formaten, dass es schwer ist, sich von anderen abzuheben. Zum Teil ist es wirklich schade, wenn man sieht, dass großartige Musiker einen Livestream machen und nur zehn Leute zuschauen.
Einige sehen die Gefahr, dass das Publikum durch die vielen kostenlosen Angebote aktuell in Zukunft weniger gewillt sein könnte, Geld für Musik auszugeben.
Die Befürchtung habe ich nicht. Kostenlose Musik-Angebote gibt es ja nicht erst seit Corona, sondern z.B. bereits seit Jahren über Streamingdienste. Ich glaube nicht, dass die Menschen deshalb nicht mehr ins Konzert kommen. Im Gegenteil: Ich denke, dass diese Zeit uns nochmal das Kostbare an Liveerlebnissen bewusst macht. Wer vor Corona gerne ins Konzert gegangen ist und jetzt diese Entbehrung durchlebt, wird es hinterher umso lieber tun. Nach dieser langen Durststrecke sehnen die Leute sich danach, wieder ins Konzert zu gehen. Ich glaube, durch die Platzbeschränkungen in den Zuschauerräumen in der ersten Zeit wird der Ansturm zunächst eher größer sein, als wir bewältigen können. Da mache ich mir überhaupt keine Sorgen.
Galerie
David Stingl in Aktion
© Peter Adamik
© Matthias Heyde
© Matthias Heyde
© Kai Bienert
© Peter Adamik
© Gundula Friese
© Gundula Friese
Besonders hart trifft die derzeitige Krise freischaffende Künstler. Du hast die Spendenaktion zugunsten der freien Sänger, die den Rundfunkchor Berlin regelmäßig unterstützen, mit initiiert. Berichte doch bitte ein wenig davon.
Mitte März, als unser Proben- und Konzertbetrieb vorläufig eingestellt wurde, war schnell klar, dass vor allem unsere freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter davon betroffen sein würden. Sie werden immer nur projektweise bezahlt, und wenn keine Konzerte stattfinden, bekommen sie kein Geld. Für uns stand fest, dass wir unsere Aushilfen, mit denen wir täglich singen und hoffentlich auch in Zukunft wieder singen werden, unterstützen möchten. Daher entschieden wir uns, eine Spendenaktion einzurichten und deren Erlöse dann möglichst schnell und unkompliziert zu verteilen. Nach knapp einer Woche Vorbereitungszeit konnten wir mit dem Aufrufvideo, an dem viele Chormitglieder und auch Gijs Leenaars mitgewirkt haben, starten. Die anfängliche Sorge, dass bei der Aktion für die Einzelnen kein nennenswerter Betrag zusammenkommen würde, erwies sich zum Glück als unbegründet. Wir haben relativ schnell erfreulich viel Geld auf unser Spendenkonto erhalten, das wir dann eine Woche später anfangen konnten an unsere Aushilfen auszuschütten. Aktuell sind bereits mehr als 37.000€ an Spenden eingegangen! Natürlich werden wir damit das Leben der Aushilfen nicht komplett finanzieren können, aber ich glaube, es ist ein wichtiger Baustein in der Summe der Hilfen, die ihnen zur Verfügung stehen, und natürlich auch eine schöne Geste. Uns war es wichtig zu zeigen: „Wir sind in dieser Krise für euch da“, und das wurde auch stark honoriert. Wir haben rührende Dankesmails von den Aushilfen und auch tolles Feedback von den Spendern bekommen. Es ist schön zu sehen, wie die Community da zusammenhält.
Wie sieht Dein Alltag momentan aus?
Tatsächlich arbeite ich für den Chor aktuell eher mehr als sonst. Die Spendenaktion und das Bach-Video haben in den ersten Wochen viel Zeit in Anspruch genommen. Die Arbeit im Betriebsrat und der Gewerkschaften ist ebenfalls recht zeitaufwändig. Es muss Vieles besprochen werden, und weil wir uns nicht live treffen können, habe ich häufig Video- und Telefonkonferenzen. Als Betriebsrat erhalte ich in letzter Zeit auch viele Anrufe von Kollegen, die Fragen und Sorgen zur aktuellen Situation haben, z.B. Probleme mit Kinderbetreuung. Singen tue ich aktuell natürlich weniger, aber ich singe mich dennoch täglich ein. Erstens könnte es ja bald wieder losgehen, und zweitens ist Singen nicht nur ein Beruf, sondern auch eine Berufung. Man hat als Sänger einfach Lust zu singen, vor allem nach so langer Zeit.
Wie siehst Du den nächsten Wochen entgegen?
Ich bin gespannt, wie die Probenarbeit mit den Abstandsregeln funktioniert. Das wird am Anfang bestimmt eine Herausforderung, weil wir gewohnt sind zusammen zu singen, gemeinsam einen Klang zu erzeugen, und das mit drei Metern Abstand zunächst erst einmal ungewohnt ist. Aber ich denke, wir werden uns daran gewöhnen und die Rahmenbedingungen werden sich auch Schritt für Schritt verbessern. Ich freue mich auf jeden Fall darauf, die Kollegen wiederzutreffen. Der »Live-Kontakt« zu Menschen fehlt mir schon sehr. In fernerer Zukunft hoffe ich auch, mal wieder ein Konzert geben zu können. Der Konzertmoment ist als Musiker das Ziel, auf das man hinarbeitet: diese eine Chance, die man hat, das Geprobte zum Besten zu geben. Das ist immer ein besonderer Moment, und diese besonderen Momente vermisse ich.
Kürzlich haben wir die Saison 2020/21 veröffentlicht. Angenommen, die Konzerte können wie geplant stattfinden: Worauf freust Du dich am meisten in der neuen Saison?
Sollte die Südamerika-Tournee stattfinden, freue ich mich darauf sehr. Mal wieder in Buenos Aires im Teatro Colón singen zu können, das ist etwas Besonderes. Ansonsten freue ich mich, dass in der kommenden Saison wieder viele Konzerte mit den Berliner Philharmonikern und verschiedenen Dirigenten geplant sind, z.B. Strauss‘ »Die Tageszeiten« mit Christian Thielemann und Elgars »The Dream of Gerontius« mit Sir Simon Rattle.