Interviews

Auf ein Wort mit Christoph Franke von der Digital Concert Hall

Vor 12 Jahren hat Christoph Franke als Tonmeister und Creative Producer die Digital Concert Hall (DCH) der Berliner Philharmoniker konzeptionell und technisch mit aufgebaut. Hunderte Konzerte aus dem Saal der Berliner Philharmonie sind auf der Plattform als Stream verfügbar oder werden live als Video übertragen. Auch der Rundfunkchor Berlin ist in der Digital Concert Hall präsent und kann so aus Wohnzimmern weltweit in höchster Qualität digital gehört und gesehen werden.

Das Streaming von Konzerten hatte noch nie eine so hohe Bedeutung wie in der aktuellen Situation und die Digital Concert Hall ist bereits seit über zehn Jahren Vorreiter auf diesem Gebiet. Wie erleben Sie diese außergewöhnliche Zeit?

Als es losging mit der Pandemie ist uns erst nach und nach bewusst geworden, was wir in dieser besonderen Zeit mit der Digital Concert Hall möglich machen können und dass sie in den folgenden Wochen zu unserem ganz bedeutsamen Werkzeug werden würde, um die Verbindung zwischen dem Orchester und der Außenwelt aufrecht zu erhalten. Und umso dankbarer waren wir dann natürlich festzustellen, etwas gebaut zu haben, was uns in der Situation gerettet hat und immer noch dabei ist das Orchester zu retten.
Nach relativ kurzer Überlegung schalteten wir den Zugang mit kostenlosen Gutscheinen für einen Monat frei, um möglichst viele Menschen in der Phase des „Eingesperrtseins“ an der Musik teilhaben zu lassen. Da haben wir gemerkt, wie wahnsinnig groß das Interesse weltweit ist und unsere DCH innerhalb von zwei Wochen auf die zehnfache Menge hochskaliert, um 700.000 Menschen in über hundert Ländern zu versorgen, was eine enorme technische Herausforderung für die Leitungen und Datenbanken war. In dieser schweren Situation haben also einige Menschen den Genuss kennen oder schätzen gelernt, etwas, was sie vorher vielleicht nicht kannten oder sich nicht vorstellen konnten: dass bei einem gut gemachten Streaming ein Konzert als Erlebnis mit vielen Emotionen und vor allem natürlich wunderbarer Musik transportiert werden kann.

Was entgegnen Sie Kritikern, die in digitalen Angeboten klassischer Musik einen Verlust des physischen Kulturerlebnisses sehen?

Das Streaming als Ereignis ist ja nichts Neues, in den 70er Jahren wurde zum Beispiel am Sonntagmittag gepflegt und ohne jede Kritik das im Fernsehen übertragene Konzert mit Herbert von Karajan aus der Philharmonie geschaut und das empfand niemand als nüchterne künstliche Sache, sondern genoss das in die Wohnzimmer gebrachte Kunsterlebnis. Heute ist es nichts anderes, übers Internet wird allerdings eine ganz andere und größere Gruppe von Menschen erreicht. Dadurch können Barrieren abgebaut werden, es das macht die Musik viel zugänglicher und transportiert im Idealfall das Besondere einer Konzertsituation und des Konzertsaals. Und wer sich richtig ausgestattet hat mit guten Lautsprechern und einem guten Bildschirm, genießt eine fantastische Tonqualität, die wirklich besser ist als jede UKW-Übertragung. Wir bemühen uns, den Abend auch ähnlich wie ein Konzert zu übertragen, indem man wirklich in den Saal hineinkommt und vorher Interviews oder Werkeinführungen ansehen kann, wie sie auch in der Philharmonie vor jedem Konzert stattfinden.

Die DCH ist eine breit aufgestellte Plattform für alle Klassikfans. Was macht sie auch über die Konzerte hinaus interessant?

Die Idee ist das Orchester in all seinen Facetten erfahrbar zu machen. Die DCH ist um die Berliner Philharmoniker herum gebaut und das bedeutet, man erlebt in erster Linie die Konzerte, aber durch Interviews mit Dirigentinnen und Solistinnen und Werkeinführungen soll auch die Musik noch besser kennengelernt und verstanden werden. Darüber hinaus haben wir eine Vielzahl von Filmen in unserem Archiv, wie regelmäßig erscheinende Portraits von unseren Musiker*innen, die weniger die Personen als vielmehr die Instrumente ins Zentrum rücken. Andere Filme beschäftigten sich kritisch mit der Geschichte des Orchesters oder geben Einblick in unser Education Programm.

Neben Werken für Orchester ist auch die Vokalmusik in der DCH vertreten. Worauf kommt es bei Aufnahmen mit Chören an und was ist hierbei zu beachten?

Zunächst orientiert man sich an den aufzunehmenden Werken und den verschiedenen Herausforderungen, die diese mit sich bringen. Allgemein ist es für eine Aufnahme wichtig durch gute Mikrofonplatzierung zu versuchen, den Chor in all seinen Qualitäten optimal darzustellen. Jede Stimmgruppe muss also in sich homogen in der Balance und die Stimmgruppen untereinander ausgewogen sein. Dies variiert je nach individueller Zusammensetzung und diese feinen Unterschiede gilt es in den Proben herauszuhören. Auch muss geprüft werden, wie nah der Chor am Orchester stehen kann, um die Trennung zwischen beiden zu gewährleisten – der Chor darf beispielsweise nicht zu nah am Blech und an den Pauken stehen. Ein Mikrofon ist dann falsch eingesetzt, wenn man den Einsatz des Mikrofons bemerkt. Daher muss die richtige Balance gefunden werden zwischen notwendiger Nähe und Entfernung, um einen schönen runden und in sich geschlossenen Chorklang zu bekommen.

Sie waren der Tonmeister bei unserer Aufnahme der Bruckner Messe in e-Moll im vergangenen Jahr – was unterscheidet die Arbeit an einer CD-Aufnahme von einem Streaming in der DCH?

Bei einem Streaming geht es um die möglichst gute Abbildung eines Live-Konzertes und die Einflussmöglichkeiten sind hier zwangsläufig relativ gering. Das Wesen einer Produktion ist es hingegen, dass man die Aufnahme wiederholen und einzelne Abschnitte miteinander kombinieren kann. Hier ist es meine Aufgabe, am Anfang gemeinsam mit dem Dirigenten ein gutes Klangbild einzustellen und den gesamten Zeitraum über das zweite Ohr neben dem Dirigenten zu sein, der sich ausreichend auf die Musik konzentrieren können soll und ich daher sozusagen die Qualitätskontrolle der Aufnahme übernehme. Letztlich habe ich bei einer Aufnahme auch die Verantwortung, das fehlende Publikum zu ersetzen. Jemand muss dem Chor und auch dem Dirigenten Feedback geben, um die Intensität und den Ausdruck für ein Publikum darstellen zu können.

Diesen Monat werden zwei Konzerte des Rundfunkchores Berlin live in der DCH übertragen. Worauf kann sich das Publikum hier besonders freuen?

Bei Strawinskys Opern-Oratorium »Oedipus rex« kann sich das Publikum auf eine sehr anspruchsvolle Aufführung freuen. Es ist ein Fest für den Geist, da diese Musik von Strawinsky so kunstvoll geschaffen ist. Eine wirklich ideale Kombination aus einerseits einer Ästhetik, die in ihrer Klarheit und fast schon klassischen Reinheit ein intellektueller Genuss ist, und gleichzeitig von der Dramatik der Aussage dann doch auch wieder eine künstlerische Intensität hat. Und genau in diesem Wechselverhältnis besteht ein enorm hoher Reiz! Der Chor hat dabei eine tragende Rolle und treibt die Handlung durch seine wahnsinnige Intensität sozusagen voran.
Außerdem wird der Rundfunkchor Berlin Ende Februar live in der Digital Concert Hall mit Richard Strauss‘ Liederzyklus für Männerchor und Orchester »Die Tageszeiten« übertragen, was extrem selten zu hören ist und daher natürlich auch sehr reizvoll zu verfolgen sein wird.

Gibt es ein Konzert des Rundfunkchores innerhalb der Digital Concert Hall, das für Sie von besonderer Bedeutung ist?

Wir haben zahlreiche wunderbare Konzerte mit dem Rundfunkchor Berlin im Archiv, von denen ich viele nennen könnte. Da die Berliner Philharmoniker Mahlers »Zweite Sinfonie« im Jahr 1895 uraufgeführt haben, ist es eines der absoluten Kernstücke des Orchesters, und etwas Großartigeres als die Chorpassage in ihrem letzten Satz gibt es kaum! Aber auch in Beethovens »Neunter Sinfonie« zum Amtsantritt von Chefdirigent Kirill Petrenko 2019 gab es eine ganz unglaublichbeeindruckende  Aufführung, als der Rundfunkchor Berlin jedes einzelne Wort so intensiv (und auswendig) gesungen hat, dass er direkt auf die Energie von Kirill Petrenko reagieren konnte. Das war fantastisch, muss ich sagen!
Aus den frühen Zeiten der DCH gibt es mit dem Rundfunkchor Berlin noch ein besonderes Stück der neuen Musik: »Requiem für einen jungen Dichter« von Bernd Alois Zimmermann – ein erschütterndes Monsterwerk, das alles über den Menschen und seine Abgründe zeigt, das war auch ein ergreifendes Erlebnis. Nicht vergessen darf man auch Bachs Matthäuspassion mit Sir Simon Rattle in der Ritualisierung von Peter Sellars. Wie fantastisch präsent und überzeugend der Chor hier agiert und sich auf die ungewöhnliche Idee der Inszenierung, bei der andere Chöre vielleicht skeptisch gewesen wären, eingelassen hat! Die intensive und ergriffene Stimmung in der Philharmonie werde ich nie vergessen und in der Digital Concert Hall ist das Konzert sehr schön festgehalten.

Wenn Sie sich etwas wünschen dürften, welches chormusikalische Stück, das bisher noch nicht in der DCH aufgeführt wurde, würden Sie gerne in Zukunft dort finden?

Es wurde schon so vieles aufgeführt, aber gut vorstellen könnte ich mir zum Beispiel die »h-Moll-Messe« von Bach mit dem Rundfunkchor Berlin! Die nüchterne und gar nicht sakrale Saal-Atmosphäre könnte mit einer entsprechenden Inszenierung verwandelt werden und die Qualitäten des Rundfunkchores wären hier nochmal auf einer anderen Ebene gefragt, das könnte eine besondere Erfahrung sein!

Welche Routinen und Rituale gibt es vor und nach den Aufnahmen für die DCH?

Wenn wir Konzerte aufnehmen ist ein Großteil der Arbeit schon vorher passiert, abends vor Beginn des Konzerts überprüfe ich dann im Saal noch die Mikrofone und im Studio das Mischpult, mögliche Störsignale und die Festplatten. Nach dem Konzert müssen die Aufnahmen gesichert werden und ich spreche mit dem Dirigenten ob dieser noch Anmerkungen für die spätere Sendefassung hat. Und eine selbstverständliche Routine nach dem Konzert ist, dem Dirigenten nach intensiven Tagen der gemeinsamen Arbeit zum gelungenen Konzert zu gratulieren.

Welche Musik hören Sie privat?

Obwohl ich beruflich wirklich wahnsinnig viel Musik höre, höre ich sie nach wie vor gerne und es wird mir zum Glück nie langweilig – das kann ich aus vollem Herzen sagen! Auch wenn ich den ganzen Tag an einer Aufnahme geschnitten habe, denke ich danach: Ach, jetzt wäre es doch schön, mal ein bisschen Musik zu hören. Ich habe eine sehr große Neugier auf Musik und finde es eine große Inspiration, mich zum Beispiel von algorithmisch generierten Vorschlägen wild durch die musikalische Landschaft treiben zu lassen und dadurch Stücke zu entdecken, die ich durch eigene Suche niemals entdeckt hätte. Und so bemerke ich immer wieder, wie schon Bernstein gesagt hat: Es gibt nur gute und schlechte Musik, aber nicht richtige und falsche Musik.

Titelbild © Peter Adamik

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