Christina Seifert singt seit 1986 als Altistin im Rundfunkchor Berlin. Aufgewachsen in Thüringen in einer Familie von Kirchenmusikern, studierte sie Gesang und Blockflöte in Weimar und wurde gleich nach dem Diplom Mitglied des Chores. Seit 1989 ist sie zusätzlich als Stimmbildnerin an der Berliner Singakademie tätig. Im Interview erzählt sie, was die »Johannes-Passion« zu einem besonderen Erlebnis macht.
Wie auch bei der Premiere 2014 arbeiten bei diesen Konzerten der Rundfunkchor, exzellente Solisten, die Philharmoniker, Simon Rattle und Peter Sellars zusammen – ein beeindruckendes Line-up! Was ist das Besondere an dieser Zusammenarbeit?
Auf jeden Fall besonders ist, dass zum ersten Mal nach Beendigung seiner Tätigkeit als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Simon Rattle zurückkommt – und gerade mit uns und in der Inszenierung von Peter Sellars, einem außergewöhnlichen Regisseur, diese Produktion wieder aufnimmt. Ich denke, ich verspreche nicht zu viel: Es wird ein Hochgenuss werden. In den vergangenen fünf Jahren ist so viel in unser aller Leben geschehen und hat uns verändert, dass man freudig gespannt sein darf, wie unsere Erfahrungen und prägenden Lebensereignisse in dieses außergewöhnliche und herausragende Projekt einfließen werden.
Wie erlebst du das Zusammenspiel zwischen Peter Sellars und Simon Rattle und dem Chor?
Seit Beginn des gemeinsamen künstlerischen Wirkens mit Simon Rattle und Peter Sellars hat sich die Zusammenarbeit zu einem Zusammenspiel entwickelt, beiderseits getragen von höchsten künstlerischen Ansprüchen, in freundlicher Atmosphäre und mit dem Ziel, erfüllende Konzerte für den Besucher und uns zu schaffen – also ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten.
Was verändert sich für euch als Chor, wenn ihr nicht »nur« singt, sondern auch szenisch agiert?
Normalerweise verschmilzt im Konzert die eigene Persönlichkeit mit der Stimmgruppe. Hier in der szenischen Umsetzung agiert jede Sängerin und jeder Sänger mit seinem Körper, seinen Gesten, seiner Persönlichkeit im Ensemble – und doch allein, das ist das Ungewöhnliche. Der Sänger wird nicht nur gehört, er wird auch als Einzelperson gesehen. Wir kennen Peter Sellars aus der Arbeit mit verschiedenen Stücken, Opern und Chorsinfonik, zuletzt 2017 mit der Oper »Le Grand Macabre«. Er beschreitet ganz neue Wege, er führt uns in emotionale Extreme und lässt uns dabei persönliche Freiheit. Jedem Tag, jeder Stunde, jeder Minute, jeder Sekunde kommt eine Wichtigkeit zu. Jedem Stück, jedem Satz, jeder Zeile, jeder Note, jeder Pause gibt er eine Bedeutung, der man nicht ausweichen mag. Dadurch entsteht etwas ganz Besonderes im Konzert: gemeinsames Musikmachen, das Geist und Seele berührt und möglicherweise verändert. Man schafft so viel unerwartet Schönes – das macht mich glücklich.
Ist solch eine Aufführung für dich erfüllender als ein eher »statisches« Konzert auf dem Podium?
Ich freue mich darüber, dass wir im Rundfunkchor Berlin in den letzten Jahren neue Wege mit dem szenischen Agieren gewagt und beschritten haben. Für mich ist dieser Teil meiner künstlerischen Tätigkeit sehr interessant zu erleben. Ich möchte jedoch keines von beidem missen. Die Mischung macht’s!
»Wenn man diese Musik zum ersten Mal hört, ist man einfach nicht vorbereitet auf dieses wogende Klangmeer und diese Dissonanzen«, gesteht Simon Rattle, der das Werk erst recht spät, mit 30 Jahren, zum ersten Mal erarbeitet hat. Du kommst aus einer kirchenmusikalischen Familie. Kannst du dich erinnern, wann du die »Johannes-Passion« zum ersten Mal gehört hast?
Ich denke, als Kind habe ich sie bereits gehört. Und ich war schon damals total überwältigt. Die »Johannes-Passion« begleitet mich mein ganzes Leben. Als Jugendliche sang ich dieses Stück unter der Leitung meines Vaters. Und bereits im Studium durfte ich die beiden Alt-Arien im Konzert singen. Ein Konzert mit unserem Rundfunkchor ist mir in besonderer Erinnerung: die Interpretation von Stefan Parkman im Konzerthaus 2001. Er dirigierte und sang den Evangelisten. Ich habe mich der »Johannes-Passion« auf unterschiedliche Weise genähert. Natürlich als Sängerin, aber ich habe das Stück auch verschiedentlich miteinstudiert und als Stimmbildnerin der Berliner Singakademie betreut. Im Laufe meines Lebens gab es mehrfach Momente, in denen gerade der Schlusschor mich besonders berührt und gestärkt hat.