Interviews

Auf ein Wort mit Hans-Hermann Rehberg

Hans-Hermann Rehberg

Seit 1990 leitet Hans-Hermann Rehberg den Rundfunkchor Berlin und blickt nun auf 40 Jahre im Dienst des Ensembles zurück, von denen er neun selbst im Chor sang. Nach dem Fall der Mauer entwickelte er diesen Chor zu einem international renommierten und um die Welt tourenden Klangkörper weiter, der oft Neues wagt und damit überzeugt. Seit nahezu 20 Jahren führt der Rundfunkchor Berlin tausende Stimmen in den zum Kultstatus avancierten Mitsingkonzerten zusammen und engagiert sich mit pädagogischen Formaten für ein breites Publikum. Nun beginnt seine letzte Saison als Chordirektor, unter anderen Bedingungen als gedacht, doch schwierige Zeiten bringen auch Chancen mit sich.

Lieber Hans, wie würdest du die letzten 40 Jahre in einem Satz zusammenfassen?

Eine schöne, bewegende, abenteuerliche und immer aufregende Reise!

Wie ist es, 40 Jahre für eine Institution zu arbeiten?

Die Zeit ist vergangen wie im Flug! Dass es wirklich 40 Jahre sind, sehe ich erst, wenn ich in den Kalender schaue, ansonsten spüre ich das nicht. Denn es war wirklich keine langweilige Zeit, es ist immer viel passiert, es war spannend und schön, manchmal auch schwierig, aber immer auch dankbar und zielführend. Und so muss es ja eigentlich auch sein, es muss immer voran gehen. Und hier ist das Stichwort Kontinuität anzumerken! Wo ständig Wechsel sind, ist es ganz schwer Strukturen zu entwickeln, sie fortzuführen, und im Sinne des Ensembles wirklich langfristig zu denken und strategisch zu erarbeiten. Da bei einem Profichor die Dirigent*innen kommen und gehen, ist es glaube ich gut, wenn es eine Konstante im administrativen Bereich gibt.

 Du hast in den 80er Jahren selbst im Rundfunkchor gesungen. Was bedeutet diese Zeit für dich?

Neun Jahre lang habe ich im Ensemble gesungen und habe mich im Chor sozialisiert. Dabei war der Weg in einen Rundfunkchor für mich überhaupt nicht selbstverständlich, denn eigentlich sah ich mich immer auf der Opernbühne. Vor allem aber wollte ich unbedingt nach Berlin, und so wollte es der Zufall, dass mein erstes Vorsingen in Berlin beim Rundfunkchor Berlin war und ich direkt angenommen wurde. Nach 14 Tagen war mir sofort klar – ich will nie wieder weg! Was für eine Repertoirevielfalt! Ganz anders als am Theater. Schon von klein auf war ich ein Musikfreak, begann mit acht Jahren die Konzert- und Opernliteratur vorwärts und rückwärts auf dem Klavier zu spielen und hatte eine große Musiksammlung. Als Sänger im Rundfunkchor konnte ich dann meine Repertoirekenntnis erweitern. Es ergab sich eine ganze Palette an Möglichkeiten, ein völlig neues Einsatzspektrum: da waren die Studio-Produktionen, Konzerte, Fernsehproduktionen, Schallplattenstudios und auch die Mitwirkung im Hörspielstudio des Rundfunks. Und sogar mein Faible für die Theaterbühne wurde bedient, denn die Staatsoper und die Komische Oper griffen für große Produktionen wie u.a. »Aida«, »Parsifal«, »Boris Godunow« gern auf die Verstärkung durch den Rundfunkchor zurück. Die Abwechslung war also groß, und mein hoher Anspruch an mein Leben mit Musik wurde erfüllt, genau wie mein hoher Anspruch an ein professionelles Umsetzen der Partitur auf ein Präzisionsversprechen traf, für das ein Rundfunkchorensemble steht. Das hätte sich für mich an der Opernbühne so nicht erfüllen können. Außerdem war die geteilte Stadt auch eine aufregende Stadt, in der man mehr vom Weltgeschehen mitkriegte, als in anderen Teilen der damaligen DDR. Mir war das wichtig. Der Rundfunkchor öffnete für mich auch ein Tor zur Welt, denn als Ensemble hatten wir hin und wieder das Privileg als Botschafter ins westliche Ausland zu reisen.

 Hat die Zeit als Sänger im Rundfunkchor deine Arbeit als Chordirektor beeinflusst?

Es war gar kein einfacher Schritt, sich als Sänger aus dem Ensemble heraus an die Spitze zu setzen und Leitungsfunktion zu übernehmen. Dabei war mir zu Anfang nie bewusst, dass ich der Vorgesetzte bin! Das hat sich dann im Laufe der Jahre natürlich geändert, denn ich musste nun die Entscheidungen treffen. Aber ich habe immer als Sänger gedacht, dessen Leidenschaft der Beruf ist, und der dafür lebt. Die Interessen von 60 Sängerinnen und Sängern zu vertreten, erfordert verschiedene Perspektiven einzunehmen. Und klar, man kann es nicht immer allen recht machen. Das waren teilweise Gratwanderungen. Meine Tätigkeit war für mich immer weniger Job, viel mehr ‚a way of life‘, da die Visionen, die ich umsetzen wollte, zu meinem Lebenselixier wurden. Meine Erfahrung und meine Repertoirekenntnis machten es mir leicht einzuschätzen, wieviel Probenzeit benötigt wird,  immer zu wissen, was mit unserem Ensemble in den gewünschten Perioden machbar ist, wenn Dirigenten mit Ideen auf mich zukamen. Und die wirtschaftliche Seite war mir aus anderen Kontexten vertraut, denn ich bin in einem Geschäftshaushalt großgeworden. Dieses Denken ist mir im Elternhaus mit auf den Weg gegeben worden. Auch vor meiner leitenden Position hatte ich schon viele Auftritte des Rundfunkchores Berlin organisiert, spätere Fortbildungen zeigten, dass ich das, was dort gelehrt wurde, im Grunde bereits umsetzte, auch wenn man sein Handwerk natürlich immer verbessern kann.

 Wie hat die deutsch-deutsche Geschichte deine Arbeit beim Rundfunkchor Berlin geprägt?

Als die Mauer ab 1989  geöffnet war, lebten wir in einer unglaublich aufregenden und komplizierten Zeit in Berlin. Wir hatten alles doppelt, teilweise oder sogar dreifach, so auch in der Chor- und Orchesterszene. Die große Herausforderung in dieser Zeit war, das Ensemble in der größer gewordenen Welt neu zu positionieren und so zu positionieren, dass es seine Führungsposition behält. Der Rundfunkchor Berlin genoss als großes Ensemble mit seinem exzellentem Klang auch in den alten Bundesländern einen tollen Ruf, doch nach dem Herstellen der deutschen Einheit mussten die Sender, der Rundfunk und die Klangkörper neu gedacht werden. Es musste eine neue Heimat für die Ensembles gefunden werden, was ein kompliziertes Unterfangen war. Viel Promotion-Arbeit war notwendig, um die Relevanz und die Qualität eines so großen professionellen Chores im Kontext der aufzuteilenden Gelder immer wieder zu unterstreichen. Die Rundfunkchöre in den alten Bundesländern bestanden aus 30 bis zu 45 Sänger*innen – wir hatten zu dem Zeitpunkt 83! Das wurde sehr stark hinterfragt, obwohl es immer eine Rechtfertigung für diese Größe gab, denn wenn man eine Balance zwischen Orchester und Chorensemble herstellen will, um die Partituren adäquat zu interpretieren, braucht es eine Achtziger Formation. Dass wir das Ensemble dennoch durch Vorruhestandsregelungen auf 64 Personen verkleinern mussten, zählt zu den schwersten Situationen in diesen 40 Jahren, auch wenn es der scheinbar einzige Weg zu sein schien. Schmerzhaft war es, diejenigen zu verabschieden, die den Ruhm des Ensembles begründet hatten und nun die Früchte in der größer gewordenen Welt mit den Gastspielen und internationalen Kooperationen nicht mehr ernten konnten. Mit der Gründung der Rundfunk-Orchester und -Chöre (ROC) GmbH nach vier Jahren konnte schließlich eine neue Heimat für die Klangkörper gefunden werden.

 Hat sich das Publikum über die letzten 30 Jahre gewandelt? Und wie gelingt es dem Rundfunkchor, immer wieder neue Experimente zu wagen und damit zu überzeugen?

Das Publikum hat sich kolossal verändert, glaube ich. Zu Beginn habe ich mich immer gewundert, warum in einer Stadt mit einer so großen Chor-Community, genau diese Leute nicht in unsere Konzerte kommen. Doch das änderte sich, als wir die Mitsingkonzerte ins Leben riefen und die Komponente des Visuellen hinzunahmen. Es sind bei den szenischen Umsetzungen von Chormusik Momente entstanden, die die Menschen mit Tränen in den Augen nach Hause gehen ließen. Wir haben mit diesen Projekten etwas initiiert, haben dem Chorpublikum neue Erlebniswelten erschlossen. Ich kriege noch heute Gänsehaut, wenn ich zum Beispiel an Peppings »Passionsbericht des Matthäus«, unser »human requiem« denke, oder an das »Luther« Projekt, um nur einige Beispiele zu nennen! Dass es uns gelungen ist, mit so vielen hochkarätigen Künstler*innen an diesen Produktionen zu arbeiten, und Performances herzustellen, die letztendlich auch so etwas wie den Rahmen für neue Kunstformen gesetzt haben, macht mich sehr glücklich. Plötzlich war der Rundfunkchor Protagonist, nicht nur Mitwirkender! Es gibt jetzt ein Publikum, das auf diese Projekte wartet. Das gleiche gilt für die Mitsingkonzerte, die mit Simon Halsey begannen, dem es gelingt, mit 1300 nicht professionellen Mitsängerinnen und Mitsängern auf Augenhöhe zu proben und ein großartiges Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Überhaupt hatten wir das Glück, immer Chefdirigenten mit einem Sinn für die Farbpalette und die Möglichkeiten des Rundfunkchores zu haben. Dirigenten, die diese Farben herauskitzelten und die Möglichkeiten ausschöpften. Robin Gritton zum Beispiel war ein Klangzauberer, Simon Halsey baute darauf auf und setzte zusätzlich auf ganz andere Parameter und mit Gijs Leenaars haben wir erneut einen Klangmagier, der sehr gut weiß mit diesen Farben umzugehen und neue Akzente zu setzen.

Was hast du dir für dein letztes Jahr beim Rundfunkchor Berlin vorgenommen?

Es gibt viele Projekte, die ich gern noch  realisieren würde, doch durch Corona stehen wir nun erstmal in der Pflicht all das Schöne nachzuholen, was wir geplant hatten. Das Publikum kann sich zum Beispiel auf das transdisziplinäre Projekt »time travellers« freuen und auf ein bei der britischen Komponistin Roxanna Panufnik eigens in Auftrag gegebenes Werk für das Mitsingkonzert. Meine Nachfolge ist ja nun berufen und insofern finde ich, ist es schön, in diesem letzten Jahr mit Rachel-Sophia Dries gemeinsam an Ideen zu basteln und eine gute fließende Übergabe zu realisieren.

Was wünschst du dir, was von deinem Wirken bleibt?

Die Community-Arbeit und das interdisziplinäre Denken im Ensemble sind zu einem echten Aushängeschild des Rundfunkchores Berlin geworden und das kann noch intensiviert und auf andere Ebenen gehoben werden. Mit vielen großartigen Künstler*innen war ich dazu im Gespräch für bestimmte Projekte und es gibt da sicherlich wunderbare Erlebniswelten, die wir noch nicht ausgelotet haben.

Was wirst du am meisten vermissen?

Am meisten vermissen werde ich das Team und die Menschen, mit denen ich über die vielen Jahre zusammengearbeitet habe. Denn da sind Freundschaften und Vertrauensverhältnisse entstanden, tolle Weggefährten haben mich begleitet. Es gibt ein gutes Verständnis für ein Miteinander und ich habe immer in dem Bewusstsein gearbeitet, dass keiner alleine alles machen kann, sondern es nur im Verbund geht! Das gemeinsame Ringen um die Perspektiven des Chores werde ich vermissen. Den Rundfunkchor werde ich zum Glück jederzeit im Konzert erleben können. Auch wenn die Corona-Zeit vieles erschwert hat, so habe ich gelernt, in Ruhe zu reflektieren über all das Gute, was wir erreicht haben, auch, dass nicht alles immer planbar ist, man es gelassen nehmen muss, wenn Dinge anders kommen, als gedacht.

Zum Abschluss ein Ausblick: wie wirst du die nächsten 40 Jahre verbringen?

Ich werde meinen Lehrauftrag weiterführen und es werden bestimmt Herausforderungen anderer Art auf mich zukommen. Die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen liegt mir am Herzen. Und es gibt Neugierde, Neues zu entdecken und noch nicht Erlebtem nachzuspüren.

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